Palast der Stürme
weitem Bogen um ihre Beine schwang. Der Diener war mit ihrem Handkoffer zurückgekehrt. Er stellte das Gepäckstück auf den Boden, verbeugte sich unterwürfig und verließ das Zimmer wieder. Roxane wollte kein Risiko eingehen und wartete, bis ihr gesamtes Gepäck in den Raum gebracht worden war, bis sie die Tür schloss und Ausschau nach einem Schlüssel zum Absperren hielt. Als sie keinen entdecken konnte, starrte sie eine Weile verärgert auf das Schlüsselloch. Obwohl sie sich wegen ihrer Schwäche ein wenig lächerlich vorkam, schlich sie sich schließlich leise durch das Zimmer, zog den einzigen Stuhl zur Tür und stellte ihn mit der Lehne unter den Porzellanknauf.
Das Mittagessen stellte sich als leichte Zwischenmahlzeit heraus, bei der Colonel Stanton nicht anwesend war. Es wurde von drei Dienern auf einem Teetisch im Salon serviert. In Roxanes Augen hätte dafür einer genügt – drei standen nur im Weg herum. Außerdem fühlte sie sich außerordentlich unwohl, da ihr anscheinend nicht gestattet war, auch nur den kleinsten Handgriff selbst zu erledigen. Es gab kleine Sandwichs, Obst, verschiedene Käsesorten und ein kaltes Getränk aus schwachem, gewürztem Tee mit Fruchtstückchen, die an Zitronen erinnerten. Roxane zeigte einen überraschenden Heißhunger, und Augusta Stanton beobachtete sie lächelnd.
»Die Hitze scheint Sie nicht zu stören«, meinte sie.
»Wie bitte?« Roxane tupfte sich die Lippen mit dem paspelierten Rand ihrer Serviette ab.
»Ihr Appetit«, erklärte Augusta. »Er ist kaum beeinträchtigt. Aber das ist natürlich Ihr erster Tag. Die Hitze wird von Tag zu Tag schlimmer, und wir alle werden dann immer etwas … Was ist das richtige Wort dafür?«
»Gereizter?«, schlug Unity vor und sah von ihrem Teller auf.
Augusta verdrehte ihre blauen Augen, und die Grübchen in ihren runden Wangen verschwanden fast ganz. »Nein«, entgegnete sie. »Das habe ich nicht gemeint. Glücklicherweise erspart uns Colonel Stantons Großzügigkeit dieses Schicksal«, fuhr sie an Roxane gewandt fort. »Er hat keine Kosten gescheut, damit wir wie jedes Jahr den Sommer in den kühleren Bergen verbringen können. Es ist bedauerlich, dass Sie uns nicht in Simla besuchen konnten, Roxane, aber das hätte die Zeit erheblich verkürzt, die Sie mit Ihrem Vater verbringen werden. Wie lange ist es schon her, dass Sie ihn gesehen haben?«
Roxane breitete ihre Serviette über ihren blassblauen Faltenrock und glättete den Stoff gedankenverloren mit den Fingerspitzen. »Fünfzehn Jahre«, antwortete sie.
»Fünfzehn Jahre? Meine Güte, so lang ist das schon her? Sie können es sicher kaum erwarten, ihn wiederzusehen.«
»Ja, sicher«, erwiderte Roxane zögernd und führte eine kleine Gabel zum Mund, auf der sie ein sorgfältig geschnittenes viereckiges Stück Melone aufgespießt hatte. Augusta und ihre Tochter tauschten einen neugierigen Blick aus.
»Es hat mir sehr leidgetan, von Ihrer Mutter zu hören, Roxane.«
»Danke, Mrs Stanton«, erwiderte Roxane tonlos. Sie legte keinen Wert darauf, über ihre Mutter oder ihren Vater zu sprechen. Sie wunderte sich darüber, dass sie das bereitwillig mit Captain Harrison, einem völlig Fremden, getan hatte – sicher ein Zeichen dafür, wie sehr sie ihre gemeinsame Fahrt in der Kutsche verwirrt hatte.
»Ich weiß nicht, ob Ihre Mutter Ihnen erzählt hat, dass wir einmal gute Freundinnen waren«, fuhr Augusta fort. »Das war vor vielen Jahren, als wir noch junge Mädchen waren. Deine Mutter war sehr hübsch. Viele junge Damen, die aufgrund ihres Vermögens oder Titels eine bessere Partie darstellten, beneideten sie. Sie gleichen ihr, was das Haar und die Figur betrifft, Roxane, aber ihre Augen … Nein, ihre Augen waren anders. Sie waren …«
»Braun«, warf Roxane in scharfem Tonfall ein. Langsam legte sie ihre Gabel auf den gewellten Rand des Porzellantellers. Mit der linken Hand zerknüllte sie die gestärkte Serviette.
»Ja, braun. Ein wunderschöner Braunton«, sprach Augusta weiter, ohne wahrzunehmen, dass Roxane sich plötzlich versteifte, auch wenn ihr Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte. »Ich kann mich noch gut an den Abend erinnern, an dem sie Ihren Vater kennenlernte. Als er sie zum Tanz aufforderte, wusste niemand, wer er war oder woher er kam. Aber als der Abend vorüber war … Abend?« Sie lachte mädchenhaft bei dem Gedanken daran. »Es war bereits vier Uhr morgens, und es gab niemanden, weder Mann noch Frau, der nicht bemerkt hatte, dass
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