Palast der Stürme
der kräftigste kleine Junge auf der ganzen Welt werden würde, falls er das alles überlebte. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Sera, die neben ihr von den Fluten so hin- und hergeschleudert wurde, dass Roxane Angst hatte, ihre kleine Hand zu verlieren. Sie versuchte, das Kind näher an sich heranzuziehen, aber das Gewicht ihrer Kleidung zog sie nach unten. Keuchend strampelte sie mit den Beinen, um sich über Wasser zu halten, und drückte Sera nach oben, sodass sich das Gesicht des Mädchens über der Oberfläche befand. Sobald ihr das gelungen war, sah sie erleichtert, wie sich das schmale Gesicht zusammenzog und das Kind kräftig hustete. Roxane ging wieder unter.
Nur Verzweiflung und Angst verliehen ihr Kräfte, als sie immer wieder unterging. Sie konnte nicht richtig schwimmen, wie sie nun feststellte, und jedes Mal, wenn sie an die Wasseroberfläche kam, rief sie um Hilfe. Sie sah fast nichts außer den reißenden Fluten um sich herum und wusste nicht, ob sie sich noch in der Nähe des Baums befand oder vielleicht schon an ihm vorbei den Fluss hinuntergetrieben war und den zersplitterten Wagen, Govind und Collier hinter sich gelassen hatte. Sera hing erschöpft in Roxanes Armen und versuchte schwach, ihren Kopf über Wasser zu halten.
Roxane spürte, wie die Kälte des Wassers ihre Muskeln schwächte und ihr ihre Energie und Hoffnung entzog. Jedes Mal, wenn sie unterging, fiel es ihr schwerer, wieder an die Oberfläche zu kommen. Und jedes Mal, wenn sie unterging, zog sie Sera mit sich, da das Mädchen nicht ohne sie schwimmen konnte. Diese Fluten waren nicht wie ein ruhiger See, wo man sich gemütlich auf der Wasseroberfläche treiben lassen konnte. Wirbel und Strömungen und die gewaltige Kraft des Wassers drückten sie immer wieder nach unten. Und jedes Mal, wenn Roxane auftauchte, hing Sera kraftloser in ihren Armen, bis Roxane schließlich erkannte, dass sie nichts mehr tun konnte. All ihre Bemühungen, all ihre Liebe und all ihre guten Absichten konnten es nicht wettmachen, dass sie eine Fähigkeit nicht besaß. Hätte sie richtig schwimmen können, wäre sie in der Lage gewesen, sich und das Mädchen zu retten, doch es gelang ihr nicht. Sera, ihre süße Sera, würde ertrinken, und sie würde ihr folgen.
Roxane war nicht sicher, wann sie das Bewusstsein verloren hatte; sie war lediglich überrascht, dass sie wieder zu sich gekommen war und nun auf einem nassen, mit Schlamm bedeckten Haufen auf dem Boden lag. Ihr Kopf und ihre Gliedmaßen schmerzten, als wäre sie verprügelt worden, und eine Zeit lang rührte sie sich nicht. Der Regen hatte aufgehört. Sie lag im Schlamm und lauschte auf irgendwelche Geräusche, die ihr verraten würden, dass ihre Schwester noch lebte und sich in der Nähe aufhielt. Aber sie hörte nur das tropfende Wasser. Das ohrenbetäubende Rauschen war in ein sanftes Plätschern übergegangen, so als hätte es der Fluss jetzt nicht mehr eilig.
Nach einer Weile setzte sie sich auf und suchte ihren Körper sorgfältig nach Brüchen ab. Dann schob sie sich eine Hand zwischen die Beine, um sich zu vergewissern, dass es sich nur um Schlamm und Wasser und nicht um Blut handelte. In einiger Entfernung rauschte der Nebenfluss friedlich dahin, und das schlammverschmierte Wasser glitzerte wie rohes Gold in der Sonne, die unerwartet am Horizont aufgetaucht war. Immerhin war es der Nebenfluss und nicht der Hauptarm. Vielleicht hatte ihr das das Leben gerettet. Aber was war mit den anderen geschehen?
Sie stand mühsam auf. Ihr Herz fühlte sich an wie ein Bleiklumpen, und als sie steifbeinig die Straße entlang zu dem angeschwollen Fluss zurückging, waren alle Gefühle in ihr wie abgestorben. Wie in einem Traum erinnerte sie sich daran, dass sie im Wasser an irgendetwas gestoßen war, irgendetwas, das ihr Sera aus den Armen gerissen hatte, und obwohl sie eine Zeit lang nach ihr gesucht hatte, waren ihr irgendwann die Augen zugefallen und sie hatte sich treiben lassen, tiefer und tiefer, und auf das Ende gewartet. Als sie jetzt am Ufer stand, wurde ihr klar, dass das Ende offensichtlich noch nicht gekommen war. Anscheinend war sie ans Ufer gespült worden. Hier an dieser Stelle? Oder war sie die Böschung hinaufgeklettert, ohne sich daran erinnern zu können?
Betäubt von dem Schock und ihrer tief sitzenden Trauer, ging Roxane am Ufer entlang. Vorsichtig setzte sie Fuß vor Fuß auf die rutschige Erde und sah sich nach einem Zeichen um, dass sie nicht die einzige
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