Palast der Stürme
richtete Roxane ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße – zumindest auf den kurzen Abschnitt, den sie sehen konnte. Auf dem allgegenwärtigen Schlamm glänzten Wasserpfützen. Der Regen fiel so schnell, dass das Wasser nicht vom Morast aufgenommen werden konnte. Seit der Regen begonnen hatte, konnten sie nicht mehr nachts reisen, denn es gab keine Sterne und keinen Mond, die ihnen den Weg weisen würden. Vorher waren die Tage unerträglich feucht und heiß gewesen, uns sie hatten während der Sonnenstunden gerastet, wann immer es ihnen möglich gewesen war. Entweder sie oder Collier hatte Wache gehalten, während sie sich in ein trockenes Flussbett oder unter dichte Büsche gelegt hatten. Sie musste beinahe lachen, als sie daran dachte, dass sie glücklicherweise den Karren bekommen hatten, denn wenn sie jetzt zu Fuß unterwegs wären, würden sie sicher bald ertrinken. Allerdings hatte der Wagen sie all ihr Barvermögen gekostet.
Die Strecke von tausend Kilometern bis Kalkutta hatte sich um ein Drittel verlängert, da sie oft hatten umkehren oder sich Umwege suchen müssen, um gefährlichen Begegnungen aus dem Weg zu gehen. Sie waren an Fatehgarh, Kanpur und Lakhnau vorbeigekommen, alles Orte, wo Rauch aufstieg und die Rebellion im Gang war. Manchmal ließ Collier sie und Sera in einem Versteck in Govinds Obhut zurück und schlich sich näher an die Dörfer heran, um die Situation einzuschätzen. Er kam immer schweigend und mit grimmiger Miene zurück und vermied es, Roxane anzusehen. Ihr war bewusst, was er in diesen Momenten dachte. Es waren seine Landsleute – und auch ihre, wie sie ihn manchmal erinnern wollte –, die dort starben, und weil er versprochen hatte, sich um ihre Sicherheit zu kümmern, konnte er nichts tun, um ihnen zu helfen. Er machte sie nicht für seine Frustration verantwortlich, aber er spürte eine Machtlosigkeit, die sich seiner Kontrolle entzog, und das traf ihn bis ins Mark.
Der Wind schleuderte ihr einen Schwall Regentropfen ins Gesicht, und sie rieb sich die Augen, bevor sie einen Blick in den dämmrigen Wagen hinter sich warf. Govind saß mit gekreuzten Beinen und gesenktem Kopf auf dem Boden und hielt die schlafende Sera in den Armen. Collier lag auf der einzigen Pritsche. Er war mit etlichen Leinenstreifen festgebunden, da sie befürchtet hatte, er würde bei seinen Fieberkrämpfen aus dem niedrigen Bett auf die beiden anderen fallen. Im Moment lag er ganz ruhig da, nur seine Finger auf seinem Brustkorb bewegten sich leicht. Wenn er hohes Fieber hatte, verfluchte er manchmal die Krankheit, die ihn so schwächte; er hatte sich vorgenommen, sie alle zu retten, und nun musste er seine Aufgabe Roxane überlassen. In den schlimmen Stadien der Krankheit war er verbittert – die Malaria verzerrte seine Wahrnehmung. Wenn es ihm besser ging, erinnerte er sich nicht an diese Momente, und selbst wenn er es tat, waren das für ihn lediglich Fieberfantasien. Roxane hatte sich geschworen, ihm niemals zu sagen, welche Worte er ihr an den Kopf geworfen hatte.
Sie wandte sich wieder der Straße zu und dachte an die erste Nacht, die sie außerhalb von Delhi verbracht hatten. Sie hatten sich im Mondschein ihren Weg durch das ehemalige britische Camp gebahnt. Die Bungalows waren alle bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und dünne Rauchfäden kräuselten sich zum Himmel empor. All die herrlichen Gärten waren zertrampelt und verwüstet. Blumen lagen vertrocknet auf der Erde, und von den Zäunen waren nur noch abgebrochene Holzlatten übrig. Überall lagen in Stücke zerhackte Möbel und Haufen von verbrannter, rauchender Kleidung. Govind saß auf einer umgekippten Bank an der Stelle, an der Collier ihren Vater begraben hatte. Das merkwürdige Bild hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Govind zwischen den Ruinen, sein weißes Gewand gespenstisch in dem schwachen Mondlicht, erhob sich von der Bank und grüßte würdevoll, als hätte er auf sie gewartet. Wie er sagte, hatte er das tatsächlich getan. Er erklärte Roxane, er habe gewusst, dass sie zurückkommen würde. Er schien auch nicht überrascht über Roxanes und Colliers Verkleidung zu sein. Roxane stellte sich zuerst an das Grab ihres Vaters, um Abschied zu nehmen, und ging dann in die Ruinen des Hauses, um einige Dinge einzupacken, die sie auf der Reise brauchen würden. Auch das Schwert ihres Vaters nahm sie mit – sie brachte es nicht fertig, es zurückzulassen.
Als sie zurückkam, hatte Govind Sera auf den Arm genommen und
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