Palast der Stürme
Gewohnheit, die er sich anscheinend von Collier abgeschaut hatte. »Ich habe sie nur von der anderen Seite des Flusses hierhergebracht. Es war der Sahib, der die Kleine gerettet hat. Er dachte, er habe Sie verloren.«
Roxane schüttelte den Kopf und schluckte heftig. Sie schaute auf Colliers Gesicht. Unter seiner Sonnenbräune war es blass, und auf seinen Wangenknochen zeigten sich zwei hellrote Flecken. Seine Haut unter ihrer Hand fühlte sich heiß und trocken an. »Er hat wieder Fieber.«
»Ja«, stimmte Govind ihr zu.
»Was sollen wir tun?«, flüsterte sie. »Er kann nicht laufen.«
Während sie Collier sanft in ihren Armen wiegte, dachte sie fieberhaft über eine Lösung nach. Vielleicht sollten sie aus Zweigen und Blättern eine Trage für ihn bauen. Aber waren sie und Govind noch stark genug, um Collier den ganzen Weg nach Kalkutta zu tragen? Sie wusste nicht mehr, was sie gegen das Fieber unternehmen sollte. Und sie hatten kein Wasser mehr, das sie unbesorgt trinken konnten, außer den Regentropfen, die von den Blättern fielen – allerdings hatten sie keinen Behälter mehr, in dem sie es hätten sammeln können. Seras Magen knurrte laut, und das kleine Mädchen presste die Hand auf den Bauch, als könnte es das Geräusch unterdrücken, bevor sie es hörten. Der Donner wurde immer lauter und kam näher, aber Roxane legte das Gesicht in ihre Hände und nahm es kaum wahr. Govind stieß plötzlich überrascht ein Keuchen aus, und Sera riss sich aus Roxanes Arm und schrie laut auf. Roxane hob den Kopf und folgte dem Blick des Gärtners auf die Straße, die hinter ihnen lag. Ihre feinen Nackenhärchen stellten sich auf, und sie wäre aufgesprungen, wenn sie dann Collier nicht ungeschützt auf dem Boden hätten liegen lassen müssen.
Ungefähr fünfzig Sowars, einheimische Kavallerietruppen, kamen auf sie zugeritten. Als sie das Klirren des Zaumzeugs hörte, wurde Roxane bewusst, dass das Donnern von den Hufschlägen auf der schlammbedeckten Straße herrührte. Die Männer riefen sich gegenseitig etwas zu, und unter dem grauen Himmel blitzten Säbel auf. Jetzt ist es so weit, dachte sie. Jetzt ist es vorbei.
Roxane machte Govind ein Zeichen, ihren bewusstlosen Mann zu beschützen, richtete sich auf und schob Sera hinter sich. Mit erhobenem Kinn erwartete sie die Ankunft der einheimischen Truppen. Eine leichte Brise, die weiteren Regen ankündigte, fuhr über ihre Schultern und ließ ihre zerzausten Locken wie eine dunkle Fahne im Wind flattern. Sie konnte nicht hoffen, dass Sera und Govind es schaffen würden, den berittenen Soldaten davonzulaufen. Es war zu spät; die Männer waren schon zu nahe bei ihnen. Also würden sie jetzt alle mit Würde dem Tod ins Gesicht sehen.
Die Sowars machten keine Anstalten, die Zügel anzuziehen. Es sah aus, als wollten sie sie niederreiten und dann den Fluss überqueren. Oder möglicherweise hatten sie sie noch gar nicht entdeckt. Instinktiv hob sie eine Hand und hielt sie in das trübe Morgenlicht. Einer der Männer in der vordersten Reihe rief einen Befehl, und die Pferde wurden so hart gezügelt, dass die Tiere in der ersten Reihe auf die Hinterbeine stiegen. Die Soldaten hinter ihnen konnten ihre Pferde nicht mehr rechtzeitig anhalten, rutschten im Schlamm an ihren Kameraden vorbei und ritten in wildem Galopp an Roxane und ihrer Familie vorüber. Andere drehten ihre Pferde so scharf herum, dass sie aus dem Sattel rutschten und in dem grünen Dickicht am Straßenrand landeten. Roxane legte die zu Fäusten geballten Hände an die Seiten und presste ihre Fingernägel in die Handinnenflächen. Als die Soldaten sich langsam von allen Seiten um sie scharten, atmete Roxane tief ein. Ihre Lippen verzogen sich zu einem zittrigen Lächeln.
»Was zum Teufel geht hier vor?«, fragte eine Stimme mit eindeutig britischem Akzent.
»Guten Morgen, Harry«, grüßte Roxane.
Der uniformierte britische Offizier zuckte zusammen und beugte sich im Sattel vor, um Roxane genauer zu mustern. Er sah irgendwie verändert aus, wie Roxane fand. So als ob er seine Trägheit abgeworfen und in diesen Krisenzeiten neu zum Leben erwacht wäre.
»Wer sind Sie?«, fragte er. Sie erkannte, dass seine Veränderung eine subjektive Wahrnehmung war, wohingegen ihr Aussehen einer Erklärung bedurfte.
»Harry, ich bin es, Roxane. Roxane … Harrison. Früher hieß ich Sheffield. Wie geht es Rose?«
Sie hörte, wie der Mann keuchend einatmete. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte laut. »Meine
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