Palazzo der Lüste
war niemand. War er bereits aufgestanden? Nicht nach so einer leidenschaftlichen Nacht – danach würde er sie nicht allein lassen. Aber da war tatsächlich niemand neben ihr. Und überhaupt die Dunkelheit. Cecilia meinte sich zu erinnern, dass Kerzen gebrannt hatten, als sie erschöpft eingeschlafen war, und jetzt war es dunkel. Sollte sie den ganzen Tag verschlafen haben? Es gab wohl keine andere Erklärung.
Sie reckte sich. Sein Duft lag noch auf ihrer Haut. Unentschlossen tasteten ihre Hände auf der Suche nach ihm umher. Zuletzt hatte sie auf einer Chaiselongue gelegen, jetzt war es ein Bett – und nicht ihr Bett in der Casa Capelli. Die Laken waren nicht aus reinweißer Seide, die Nähte nicht mit Spitzen gesäumt. Soweit sie es in der Dunkelheit erkennen konnte, war die Bettwäsche bunt gemustert, das Laken aus Frottee. Frottee! Das gab es nicht im Jahr 1754. Sie musste sich irren. Wild fuhren ihre Hände auf dem Bett hin und her – es war und blieb Frottee. Sie konnte nicht mehr in der Casa Capelli sein.
Das war – ihr Schlafzimmer in Livorno.
Mit einem Schlag war sie hellwach und tastete nach der Lampe, die auf dem Nachttisch neben dem Bett stand. Beides war da. Sie knipste das Licht an. Was sie geahnt hatte, brachte das elektrische Licht unbarmherzig zum Vorschein. Sie war wieder im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ihr Schlafzimmer sah aus, als wäre sie nicht eine Nacht fort gewesen.
Sie setzte sich im Bett auf und blickte an sich herunter. Sie trug das Lederkorsett, die Netzstrümpfe, die zu engen High Heels. Sie griff sich an den Hals. Das Stachelhalsband mit dem Anhänger fehlte. Ja richtig, das hatte sie Nicolò umgebunden. Wenn der Stein nicht bei ihr war, wie war sie gereist? Was war dann für die Zeitreise verantwortlich? Sie sah an sich herunter. Was trug sie noch? Die Strümpfe konnten es nicht sein – einfache Netzstrümpfe, wie man sie in jedem Warenhaus erstehen konnte. Die Schuhe – hoffentlich nicht diese zu engen Schuhe. Dann blieben nur noch das Korsett und die Armstulpen. Die waren ungewöhnlich genug, und sie erinnerte sich an ihr Unbehagen, als sie sie vor mehr als drei Monaten zum ersten Mal angelegt hatte. Cecilia nahm sie ab und schleuderte sie in eine Ecke des Zimmers. Sie wollte sie nicht mehr sehen. Gerade, als sie sich entschlossen hatte im Jahr 1754 zu bleiben, musste das geschehen. Sie hatte bei Nicolò bleiben wollen, seinen Namen tragen und seine Kinder gebären.
Nicolò Capelli de San Benedetto. Dem Mann, den sie vor zweihundertfünfzig Jahren in ihr Herz gelassen hatte, der Stefano d´Inzeo gewesen war und auch wieder nicht. Cecilia schluchzte auf. »Warum? Warum nur?«
Ihre Frage richtete sich an niemand bestimmten und doch an die ganze Welt. Mit den Fäusten schlug sie auf die Bettdecke ein.
Tief in ihrem Inneren gab sie sich die Antwort auf ihre Frage: »Du hast deine Aufgabe erledigt. Jetzt wirst du wieder in dieser Zeit gebraucht.«
»Aber was ist das für eine Welt, in der die Leute in der Zeit hin- und hergeschoben werden!«, rief sie anklagend aus.
Nur die Stille des Zimmers antwortete ihr. Sie schwang die Beine aus dem Bett, streifte die Schuhe von den Füßen, öffnete die Schnallen des Korsetts und zog es aus, rollte die Netzstrümpfe herunter. Nackt stand sie vor dem Bett, zwischen den Beinen immer noch das angenehme Gefühl, von einem Mann leidenschaftlich geliebt worden zu sein. Wäre das nicht gewesen, hätte sie ihre Erlebnisse in der Vergangenheit für einen besonders intensiven Traum halten können.
Die Digitalanzeige ihres Weckers stand auf zehn Minuten nach vier Uhr. Sie zog sich einen blauweiß gestreiften Morgenrock über, der auf einem Stuhl in der Ecke ihres Schlafzimmers gelegen hatte, als hätte sie ihn dort gestern Abend hingeworfen. Das Zimmer kam ihr klein und vor allen Dingen niedrig vor.
Barfuß ging sie durch ihre Wohnung und fühlte sich wie auf einer Entdeckungstour. Viel gab es nicht zu entdecken in zwei Zimmern, Küche und Bad. Überall lag Staub, ein Beweis dafür, dass sie doch länger abwesend war. Im Wohnzimmer fiel ihr Blick als erstes auf Stefanos Bild, und Tränen stiegen in ihr auf. Wenn sie an ihn dachte, schob sich sofort Nicolòs Bild vor seines. Wenn sie an Nicolò dachte, stahl sich Stefano in ihre Gedanken. Wen sollte sie lieben? Sie konnte nicht einfach den einen verlassen und sich dem anderen wieder zuwenden.
»Das tust du gar nicht«, sagte sie laut zu sich selbst.
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