Palazzo der Lüste
»Nicolò und Stefano sind ein und derselbe in verschiedenen Zeitaltern, und du musstest ihn aus den Bleikammern befreien, damit du ihn in dieser Zeit haben kannst.«
Diese Argumentation war bestrickend und die einzige, die erklärte, warum sie auf beide Männer so leidenschaftlich reagierte. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als das Beste daraus zu machen, so wie sie auch aus ihrer Zeitreise das Beste gemacht hatte.
»Nicolò«, flüsterte sie, »heirate Lucrezia und werde glücklich. Und du Cecilia, sei fatalistisch und nimm es als ein Abenteuer. Es gibt Dinge, die kannst du nicht ändern, und du solltest es auch nicht versuchen.« Das hatte ihr Großvater immer gesagt, wenn sie als Kind ungeduldig gewesen war. Sie war oft ungeduldig gewesen, und entsprechend deutlich hatte sie seine Stimme im Ohr. Nie war sein Ratschlag zutreffender gewesen als jetzt. Dennoch konnte sie fühlen, wie ihr Herz in der Brust hämmerte.
Ihr Blick fiel auf Stefanos Bild. Es beanspruchte den Platz über ihrem Sofa, als hätte es immer dort gehangen. Ruhig kniete da eine Frau an der Quelle und blickte ins Wasser, so wie sie es immer getan hatte, und wie sie es noch in zwanzig Jahren tun würde. Ihr Spiegelbild war unverändert schön. Die Ruhe in Stefanos Bild half ihr, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und sie registrierte die blinkende Anzeige des Anrufbeantworters. Automatisch drückte Cecilia den Knopf, um die Nachrichten abzuhören.
Stefanos Stimme ertönte. Er wollte sie sehen, fragte, warum sie bei ihrem letzten Treffen ohne Erklärung verschwunden war. Gleich darauf noch einmal seine Stimme mit denselben Fragen, nur drängender. Ein Anruf Stefanos folgte auf den nächsten. Immer eindringlicher bat er sie um einen Rückruf, und am Ende klang er wütend. Einige waren auch von ihrem Bruder und ihren Eltern. Nach etwa zwanzig Anrufen war das Band voll. Das war in der ersten Woche nach ihrem Verschwinden gewesen. Was hatten ihre Eltern danach gemacht? Die Polizei eingeschaltet, um nach ihrer verschwundenen Tochter suchen zu lassen? Hoffentlich nicht. Hoffentlich hatten sie sich daran erinnert, dass sie mit siebzehn in den Sommerferien vier Wochen lang durch Frankreich getrampt war und aus Bordeaux eine Karte mit dem einen Satz »Mir geht es gut, macht euch keine Sorgen, komme wieder« geschrieben hatte. Damals hatte ihr Großvater mäßigend auf ihre Eltern eingeredet und um Verständnis für ein Mädchen geworben, das seine Freiheit ausprobieren wollte. Er war die graue Eminenz in der Familie gewesen, sie konnte nur hoffen, dass sein Einfluss auch über seinen Tod hinaus wirken würde.
Kapitel 19
Vor den Stimmen aus dem Anrufbeantworter floh Cecilia in die Küche, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und sank auf einen der beiden roten plastikbezogenen Stühle. Das Wasser schmeckte abgestanden – ein weiterer Beweis für ihre lange Abwesenheit.
Durch das geschlossene Fenster drangen die Geräusche vorbeifahrender Autos, nicht das Plätschern des Canal Grande oder die Rufe der Gondoliere.
Was sollte sie tun? Sie fühlte sich fremd und vermisste auf einmal einen bis zum Boden reichenden Morgenrock, zierliche seidenbezogene Pantöffelchen und eine Zofe, die ihr das Haar hochsteckte. Erstaunlich, wie schnell sie sich an alles gewöhnt hatte. Wie lange war sie fort gewesen? Diese Frage elektrisierte sie. Es war Juni, als sie ihre Zeitreise angetreten hatte, und sie sollte am fünfzehnten Oktober ihre Arbeit bei der Polizei in Livorno aufnehmen. Wenn sie diesen Termin verpasst hatte … drei Jahre nervenaufreibender Ausbildung umsonst. Sie musste es sofort wissen.
Der Fernseher. Cecilia sauste wieder zurück ins Wohnzimmer. Sie schaltete das Gerät ein und suchte den Teletext. Noch September – da stand es rechts oben in der Ecke. Sie hatte noch etwa drei Wochen Zeit, bis sie ihre Stelle antreten musste. Puh!
Auf einmal musste sie lachen. Wie schnell die Probleme des einundzwanzigsten Jahrhunderts sie wieder eingeholt hatten! Sie war noch keine Stunde hier und schon machte sie sich Gedanken um ihren Job. Den hatte sie ja noch. Cecilia trank die Wasserflasche leer, setzte sich aufs Sofa und legte die Füße hoch. Sie kuschelte sich in die Sofaecke – es war so natürlich, als hätte sie gestern zum letzten Mal hier gesessen. Viele Abende hatte sie so verbracht, mit einem Buch in der Hand, einem Glas Wein oder einer Kanne Tee auf dem Couchtisch.
Die
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