Pamuk, Orhan
auf dem Schnee,
die meiste Zeit jedoch sehe ich nichts, kein einziges Licht, und horche auf die
Stockschläge der Nachtwächter gegen irgendwelche Steine, auf das Geheul der
wilden Hundemeuten oder auf ein Wimmern aus einem der Häuser, um meinen Weg zu
finden. Manchmal werden die engen, furchterregenden Gassen der
mitternächtlichen Stadt durch ein wundersames Licht erhellt, das aus dem
Schnee hervorzuschimmern scheint, und ich meine, zwischen Bäumen und Ruinen
jene Gespenster zu sehen, die Istanbul seit Hunderten von Jahren bei Dunkelheit
so schaurig machen. Manchmal auch dringen Laute des Unheils aus dem Innern der
Häuser; entweder hustet einer unentwegt, oder ein anderer zieht schniefend die
Nase hoch, wieder andere schreien und weinen im Schlaf, oder Mann und Frau
versuchen, einander zu würgen, während die Kinder an ihrer Seite heulen.
Da ich mich aufheitern und an die
glückliche Zeit zurückdenken wollte, als ich noch kein Mörder war, bin ich
einige Male abends in dieses Kaffeehaus gekommen, um den meddah zu
hören. Die meisten meiner Malerbrüder, die mir lebenslang eng vertraut sind,
kommen jeden Abend hierher. Doch seit ich einen Dummkopf beseitigt habe, der
seit den Kindertagen mit uns allen die Malkunst betrieb, will ich keinen
einzigen mehr von ihnen sehen. Im Leben meiner Brüder, die nicht ohne Klatsch
auskommen, wenn sie beisammen sind, gibt es vieles, was mir Scham bereitet,
wie auch diese schändliche Art der Belustigung hier. Damit sie nicht meinen,
ich sei hochnäsig, und mich damit hänseln, habe ich auch ein paar Bilder für
den meddah gemalt, doch glaube ich nicht, daß dies ihre Eifersucht
beschwichtigen könnte.
Und wie recht sie haben,
eifersüchtig zu sein! Wenn's darum geht, die Farben zu mischen, den
Schriftrahmen zu setzen, die Seite zu komponieren, das Thema zu wählen,
Gesichter zu zeichnen, vielköpfige Kampf- oder Jagdszenen zu plazieren, Tiere,
Sultane, Schiffe, Pferde, Krieger oder Liebende zu malen, die Poesie des
Sinngehalts in die Illustration einfließen zu lassen, ja sogar zu vergolden,
dann bin ich allen voran der Meister. Das sage ich euch nicht, weil ich gelobt
werden will, sondern damit ihr mich versteht. Die Eifersucht wird im Leben
eines Meisterillustrators mit der Zeit eine ebenso unverzichtbare Zutat wie die
Farbe.
Manchmal begegnet mir auf meinen Spaziergängen,
die meiner inneren Unrast wegen immer länger werden, einer meiner ach so reinen
und unschuldigen Glaubensbrüder, und unsere Blicke treffen sich. Dann habe ich
plötzlich eine seltsame Eingebung: Wenn ich jetzt daran denke, daß ich ein
Mörder bin, wird mir das mein Gegenüber an den Augen ablesen!
Also zwinge ich mich, ganz schnell
an andere Dinge zu denken, genauso, wie ich mich in meinen jungen Jahren voller
Scham dazu zwang, während des Gebets nicht an die Frauen zu denken. Doch im
Gegensatz zu damals, als ich unfähig war, in meinen jugendlichen Nöten den
Liebesakt aus meinen Gedanken zu treiben, kann ich den Mord, den ich begangen
habe, durchaus vergessen.
Ihr versteht, daß ich all dies
erzähle, weil es mit meinem jetzigen Zustand zu tun hat. Ihr versteht sogar
alles, was ich mir nur eben durch den Kopf gehen lasse. Was dann hieße, daß ich
nicht mehr der namenlose Mörder unbekannter Herkunft bin, der gespenstergleich
unter euch wandelt, sondern es versetzt mich in die Lage eines gewöhnlichen
Verbrechers, den man entdeckt hat, dessen Gesicht man kennt und der den Kopf
verlieren wird. Erlaubt mir bitte, daß ich nicht alles in Gedanken fasse,
sondern einiges für mich behalte: In der gleichen Weise, wie einfühlsame Leute
eures Schlages den Dieb finden, indem sie seine Fußspuren verfolgen, möge man
aus meinen Wörtern und meinen Farben entdecken, wer ich bin. Und das führt uns
zu dem in diesen Tagen recht viel behandelten Thema des Stils: Gibt es eine
ganz persönliche Methode des Illustrators, eine Farbe, einen Ton, die nur ihm
eigen sind, sollte es sie geben?
Nehmen wir ein Bild von Behzat, dem
Meister der Meister, dem Patron der Bildermalerei, als Beispiel. Auf dieses
wunderbare Ding, das so gut zu meiner Lage paßt, weil es einen Mord schildert,
bin ich auf den Seiten eines neunzig Jahre alten Buches, einer makellosen
Herater Arbeit, gestoßen. Es erzählt die Geschichte von Hüsrev und Şirin und stammt aus der
Bibliothek eines persischen Kronprinzen, der selbst im Verlauf eines
erbarmungslosen Thronstreites umgebracht wurde. Das Ende von Hüsrev und Şirin ist euch bekannt,
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