Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
Vom Netzwerk:
es zu«, log ich in meiner
Ausweglosigkeit.
    »Das Bild, das ihr malt, ist eine
große Sünde, weißt du das?« meinte er einfältig. »Eine Lästerung, eine
Ketzerei, wie sie niemand wagen dürfte! In der tiefsten Hölle werdet ihr
brennen, eure Schmerzen und Leiden werden niemals enden! Und ihr habt mich zum
Komplizen gemacht!«
    Als ich diese Worte hörte, begriff
ich voller Entsetzen, daß ihm viele Leute glauben würden. Warum? Weil darin
eine solche Kraft, eine solche Anziehung steckte, daß ein Mensch unwillkürlich
aufhorchen und wünschen mußte, über andere Schufte die Wahrheit zu erfahren.
Wegen der Geheimhaltung des Buches, an dem der Oheim arbeitete, und des Geldes
wegen, das er dafür erhielt, war ohnehin sehr viel Geschwätz dieser Art über
ihn im Umlauf. Außerdem haßte ihn Meister Osman, der Erste Illustrator. Ich
hatte sogar daran gedacht, daß mein Bruder Vergolder damit ganz gerissen seine
Verleumdungen untermauerte. In welchem Maße war er aufrichtig?
    Ich ließ ihn die Vorwürfe
wiederholen, die uns entzweit hatten. Er konnte nicht auf den Worten
herumkauen, daran drehen und deuteln. Es war, als wolle er mich auffordern,
eine Verfehlung zu vertuschen, um uns vor den Prügeln Meister Osmans zu
bewahren, die wir in unseren gemeinsamen Lehrjahren hatten einstecken müssen.
In diesem Augenblick glaubte ich an seine Aufrichtigkeit. Auch in der Lehrzeit
hatte er die Augen so weit aufgerissen, nur waren sie damals noch nicht
schmaler geworden durch die Beschäftigung des Vergoldens. Ich wollte aber
keine Liebe mehr für ihn empfinden, war er doch bereit, anderen die ganze
Geschichte weiterzuerzählen.
    »Schau einmal«, erklärte ich mit
falscher Unbekümmertheit, »wir vergolden, erfinden Randverzierungen, ziehen
Rahmen, schmükken die Seiten mit bunt glänzendem Gold, machen die schönsten
Bilder, beleben Schränke und Truhen. Das tun wir seit Jahren. Es ist unsere
Arbeit. Man trägt uns auf, Bilder zu malen, man sagt uns, in jenen Rahmen ein
Schiff, eine Antilope, einen Padischah zu setzen, Vögel solcher Art, Männer wie
jene dort, und diese Szene der Geschichte soll so eingefügt werden, und wir
tun es. Schau, diesmal hat der Oheim gesagt: ›Zeichne dort ein Pferd hin,
wie du's dir vorstellst.‹ Um zu begreifen, was ein Pferdebild nach meiner
Vorstellung war, habe ich wie die großen alten Meister drei Tage lang Hunderte
von Pferden gezeichnet.« Ich holte eine Reihe von Pferdeskizzen hervor, die
ich zur Übung auf grobes Samarkand-Papier gezeichnet hatte, und zeigte sie ihm.
Er wurde aufmerksam, nahm den Bogen in die Hand, hielt ihn sich im blassen
Mondlicht dicht vor die Augen und begann, die schwarzweißen Pferde zu betrachten.
»Die alten Meister aus Schiras und Herat meinten, der Illustrator müsse, um
das wahre Bild eines Pferdes, wie Allah es gewollt und gesehen hat, zeichnen zu
können, fünfzig Jahre ohne Unterlaß Pferdebilder zeichnen«, sagte ich. »Und sie
fügten noch hinzu, das beste Bild eines Pferdes würde ohnehin im Dunkeln
gezeichnet. Denn der Illustrator, der unentwegt fünfzig Jahre arbeitet, wird
blind, und seine Hand zeichnet das Pferd aus dem Gedächtnis.«
    Der Blick voller Unschuld, den ich
schon seit unserer Kindheit an ihm kannte, hatte sich in die von mir
gezeichneten Pferde vertieft.
    »Man gibt uns den Auftrag, und wir
bemühen uns, wie es die alten Meister taten, das geheimnisvollste,
unerreichbar schwierigste Pferd zu zeichnen, das ist alles. Uns später für das
verantwortlich zu machen, was man uns aufgetragen hat, ist einfach ungerecht.«
    »Ich weiß nicht, stimmt das?« fragte
er. »Wir haben auch eine Verantwortung, eine Willenskraft. Ich fürchte
niemanden außer Allah. Und er gab uns den Verstand, damit wir Gut und Böse voneinander
trennen können.«
    Die Antwort war zutreffend.
    »Allah sieht alles, weiß alles ...«
sagte ich auf arabisch. »Er wird verstehen, daß du und ich, wir alle, diese
Arbeit unwissentlich ausführen. Bei wem wirst du den Oheim anzeigen? Glaubst
du denn nicht, daß hinter dieser Sache der Wille unseres Herrn, des Padischahs,
steht?«
    Er schwieg.
    Ich überlegte: Besaß er wirklich nur
ein Spatzengehirn oder fürchtete er Allah plötzlich so sehr, daß er seine
Kaltblütigkeit verloren hatte und Unsinn redete?
    Wir standen jetzt neben dem Brunnen.
Für einen Augenblick meinte ich, in der Dunkelheit seine Augen zu sehen, und
begriff seine Furcht. Er tat mir leid. Doch der Pfeil war abgeschossen. Ich
flehte zu Allah, mir

Weitere Kostenlose Bücher