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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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die fränkischen Meister sogar für die einfachste Schwertwunde oder den
gewöhnlichsten dünnen Wollstoff verwendeten, als unwürdige Stümperei und gingen
lachend darüber hinweg. Nur der unerfahrene, entschlußlose und willensschwache
Illustrator benutzt verschiedene Töne für das Rot eines Kaftans, sagten sie.
Und der Schatten kann kein Vorwand sein. Ohnehin gibt es nur ein einziges Rot,
und nur daran glaubt man.
    »Welche Bedeutung hat dieses Rot?«
fragte wiederum der blinde Illustrator, der das Pferd aus dem Kopf gezeichnet
hatte.
    »Die Bedeutung der Farben liegt
darin, daß sie dort vor uns sind und daß wir sie sehen«, sagte der andere. »Wer
nicht sieht, dem kann man das Rot nicht erklären.«
    »Auch die Gottesleugner, Ketzer und
Ungläubigen sagen, um Allahs Sein in Abrede zu stellen, daß er nicht in
Erscheinung trete«, meinte der blinde Pferdemaler.
    »Während Er doch dem erscheint, der
sieht«, sagte der andere Meister. »Aus diesem Grund spricht der Koran davon,
daß der Sehende und der Nichtsehende niemals eins sein werden.«
    Der schöne Lehrling hatte mich nach
und nach auf die Satteldecke des Pferdes aufgetragen. Es ist ein so
wunderbares Gefühl, mich mit meiner eigenen Fülle, Kraft und Lebendigkeit auf
dem Schwarzweiß einer schönen Illustration niederzulassen, daß ich vor Freude
kitzlig werde, wenn mich der Pinsel aus Katzenhaaren auf dem Papier verbreitet.
So ist es, während ich Farbe gebe, als ob ich zur Welt sagte: »Sei«, und die
Welt entsteht aus meiner Blutfarbe. Wer nicht sieht, leugnet ab, dennoch bin
ich überall.

32
  Ich, Şeküre
    Ich stand am Morgen auf, bevor die Kinder wach
wurden, schrieb eine kurze Nachricht an Kara, daß er sofort in das Haus des
gehenkten Juden kommen solle, und drückte ihn Hayriye in die Hand, damit die
Nachricht so rasch wie möglich zu Ester gelangte. Wenn mir auch Hayriye,
während sie den Brief entgegennahm, noch respektloser als sonst in die Augen
blickte, trotz der Angst vor dem, was uns geschehen konnte, so blickte ich mit
einer neugewonnenen Achtlosigkeit in ihre Augen, da ich nun keinen Vater mehr
hatte, den ich fürchten mußte. Und das bestimmte die Tonart des Verhaltens
zwischen uns für die Zukunft. Jetzt kann ich ja zugeben, wie sehr ich während
der letzten zwei Jahre befürchtet hatte, daß Hayriye ein Kind von meinem Vater
bekommen, ihren Sklavenstand vergessen und sich als Dame aufspielen könnte.
Bevor die Kinder aufwachten, besuchte ich meinen armen Vater und küßte seine inzwischen
steif gewordene Hand, die aber seltsamerweise ihre Weichheit nicht verloren
hatte. Ich versteckte seine Schuhe, seinen Turban und seinen purpurfarbenen
Überwurf und sagte den Kindern, als sie wach geworden waren, ihr Großvater sei
in der Frühe zu Mustafa Pascha gegangen.
    Während Hayriye, zurück von ihrem
morgendlichen Ausgang, den Tisch für das Frühstück deckte und einen noch
eßbaren Teil der Pomeranzenmarmelade in die Mitte stellte, dachte ich daran,
daß Ester wohl gerade jetzt an Karas Tür klopfte. Es hatte aufgehört zu schneien,
und die Sonne schien.
    Als ich den Garten des gehenkten
Juden betrat, sah ich, daß auch hier die Eiszapfen an den Dachgesimsen und
Fensterrahmen rasch schmolzen und der nach Schimmel und faulen Blättern
riechende Garten die Sonne willig einsog. Kara erwartete mich an derselben
Stelle, an der ich ihn gestern abend – es kam mir vor, als wäre es Wochen her – zuerst erblickt hatte. Ich hob meinen Schleier und sagte: »Freue dich, falls du
dich von Herzen freuen willst. Die Einwände, der Widerstand und der Argwohn
meines Vaters stehen jetzt nicht mehr zwischen uns. Während du gestern abend
versucht hast, mich hier auf ehrlose Weise zu bedrängen, ist jemand, irgendein
teuflischer Mensch, in unser leeres Haus eingedrungen und hat meinen Vater
umgebracht.«
    Ihr würdet wohl gerne wissen, warum
ich so von oben herab und ein bißchen kühl gesprochen habe, weniger aber, wie
Kara meine Verhaltensweise aufnahm. Die Antwort darauf weiß auch ich nicht genau.
Vielleicht, weil ich sonst geweint hätte, Kara mich dann umarmt hätte und ich
ihm schneller als gedacht nähergekommen wäre.
    »Man hat unser Haus durchwühlt,
viele Sachen zerschlagen und ist ohne jeden Zweifel voller Wut und Haß
vorgegangen. Ich glaube nicht, daß dieser Teufel seine Arbeit erledigt hat und
von jetzt an ruhig in seiner Ecke sitzen bleibt. Er hat das letzte Bild für das
Buch meines Vaters gestohlen. Ich möchte, daß du mich, uns,

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