Pamuk, Orhan
dem Sausen des Windes gelauscht habe. Ein Teil von mir spricht hier
zu euren Augen, das ist meine schwere Seite. Ein Teil von mir wird in der Luft
durch eure Blicke beflügelt, das ist meine leichte Seite.
Und wie glücklich bin ich, Rot zu
sein! Mein Inneres brennt. Ich bin stark; ich weiß, daß ich wahrgenommen werde,
und auch, daß ihr mir nicht widerstehen könnt.
Ich verberge mich nicht: Für mich
verwirklicht sich Feinheit nicht durch Schwäche oder Kraftlosigkeit, sondern
nur durch Entschlossenheit und Willenskraft. Ich zeige mich offen. Ich fürchte
mich nicht vor anderen Farben, Schatten, vor Massengedränge oder gar
Einsamkeit. Wie herrlich, eine mich erwartende Oberfläche mit dem Feuer meines
Sieges auszufüllen! Wo ich mich verbreite, glänzen die Augen, erstarken die
Leidenschaften, heben sich die Brauen, schlagen die Herzen schneller. Seht mich
an, wie schön ist es zu leben! Betrachtet mich, wie schön ist es zu sehen!
Leben ist sehen. Ich bin überall sichtbar. Glaubt mir nur, mit mir beginnt das
Leben, zu mir kehrt alles zurück.
Seid still und hört zu, wie ich ein
so wundervolles Rot geworden bin. Ein Altmeister, der sich auf Farben gut
verstand, zerstieß höchst eigenhändig den rötesten der getrockneten Käfer aus
der heißesten Gegend Indiens in seinem Mörser zu feinstem Pulver und wog fünf Dirhem
davon und ein Dirhem Seifenwurz und ein halbes Dirhem Lotuswurz ab. Dann tat er
drei Okka Wasser in einen Kessel, warf den Seifenwurz hinein und kochte ihn.
Dann tat er Lotuswurz ins Wasser und rührte gut um. Schließlich ließ er alles
so lange kochen, wie man zum Trinken eines guten Kaffees braucht. Während er
seinen Kaffee trank, wurde ich ungeduldig wie ein Kind kurz vor der Geburt.
Während der Kaffee seinen Verstand weitete und seine Augen blitzen ließ, warf
er das rote Pulver in den Kessel und rührte mit einem dünnen, sauberen, dafür
bestimmten Stab alles gründlich durch. Jetzt würde ich ein wahres Rot sein,
doch es kam auf meine Konsistenz an, weswegen das Wasser nicht unnötig lange,
aber natürlich lange genug kochen mußte. Mit der Spitze des Stabes holte er ein
wenig von mir aus dem Kessel und trug es auf seinen Daumennagel auf (andere
Finger kamen nicht in Frage!). Oh, wie schön es war, Rot zu sein! Ich färbte
seinen Nagel rot, lief nicht wie Wasser über die Ränder hinaus. Ich hatte die
richtige Konsistenz, doch gab es noch Bodensatz. Er nahm den Kessel vom Herd
und filterte mich durch ein sauberes Tuch, so daß ich noch reiner wurde. Dann
setzte er mich aufs Feuer, ließ mich zweimal aufkochen und schäumen, tat ein
wenig zerstoßenes Alaun hinzu und ließ mich abkühlen.
Einige Tage vergingen, und ich blieb
in dem Kessel, ohne mich mit irgend etwas anderem zu vermischen. Das
Stillhalten brach mir das Herz, brannte ich doch darauf, auf allen Seiten an
jeder Stelle aufgestrichen zu werden. Und in dieser Stille dachte ich darüber
nach, was es heißt, Rot zu sein.
Ich habe einmal in einer persischen
Stadt dem Zwiegespräch zwei blinder Altmeister gelauscht, während ich mit dem
Pinsel eines Lehrlings auf die Stickereien an der Satteldecke des Pferdes aufgetragen
wurde, das einer der Blinden aus dem Kopf gezeichnet hatte.
»Nach einem ganzen Leben gläubiger
Hingabe an unsere Arbeit, die uns am Ende natürlich erblinden ließ, wissen wir
und erinnern uns daran, was für eine Farbe, was für ein Gefühl das Rot ist«,
sagte derjenige, der das Pferd aus dem Kopf gemalt hatte. »Wie aber könnten wir
dieses Rot begreifen, das unser schöner Lehrling gerade aufträgt, wenn wir
blind geboren worden wären?«
»Eine gute Frage«, meinte der
andere, »doch Farben begreift man nicht, man erfühlt sie.«
»Erklärt einem, der die Farbe
niemals sah, was Rot ist, großer Meister.«
»Würden wir es mit der Fingerspitze
berühren, wäre es etwas zwischen Eisen und Kupfer. Auf die Handfläche gelegt,
würde es brennen. Würden wir es kosten, wäre es kräftig wie gesalzenes Fleisch.
Nähmen wir es in den Mund, würde der ausgefüllt sein. Würden wir daran riechen,
gliche es dem Geruch eines Pferdes. Und wäre sein Duft der einer Blume, dann
gliche er dem der Kamille, nicht aber dem der roten Rose.«
Damals vor einhundertzehn Jahren war
die fränkische Malerei noch keine wirkliche Gefahr, zu der sich die Schahs
hingezogen fühlten, und da die legendären Altmeister an ihre eigenen Methoden
wie an Allah glaubten, betrachteten sie die verschiedenen roten Zwischentöne,
welche
Weitere Kostenlose Bücher