Pamuk, Orhan
Zeit.
Denjenigen, die mich für
gewissenlos, ja für schuldig halten, muß ich sogleich sagen, daß ich zweimal
mehr geweint habe: einmal, während ich mich gegenüber den Kindern oben im Zimmer
so verhielt, daß sie nicht merkten, was geschehen war, und mir wie in der
Kindheit eine der zum Glätten von Papier benutzten Muscheln ans Ohr hielt und
feststellte, daß ich die Stimme des Meeres kaum noch vernehmen konnte. Zum
zweitenmal, als ich das rote Samtkissen sah, zerfetzt wie alles übrige, auf
dem mein Vater die letzten zwanzig Jahre ständig gesessen hatte und das so fast
zu einem Teil seines Gesäßes geworden war.
Nachdem wir bis auf die nicht mehr
zu behebenden Schäden die alte Ordnung im Haus wiederhergestellt hatten, wies
ich Hayriyes Wunsch, ihr Bett in dieser Nacht in unserem Zimmer aufzuschlagen,
mitleidlos zurück. »Die Kinder sollen morgens keinen Verdacht schöpfen«, sagte
ich zu ihr. In Wirklichkeit aber wollte ich mit meinen Kindern allein sein und
Hayriye bestrafen. Ich ging zu Bett, konnte aber lange Zeit nicht einschlafen.
Nicht, weil ich an das Schreckliche dachte, das mir geschehen war, sondern weil
ich mir ausrechnete, was mir noch geschehen könnte.
31
Rot ist mein Name
Nachdem Firdevsi, Dichter des Buchs der
Könige, nach Gazne gekommen war, wo ihn die Poeten im Palast des Schah
Mahmut als Provinzler verspotteten, war ich dabei, war auf seinem Kaftan, als
er augenblicklich die vierte Zeile eines Doppelverses hersagte, die niemand
hatte vollenden können, weil dessen erste drei Halbverse auf einen sehr
schwierigen Reim endeten. Als Rüstem, der legendäre Held des Schahname, seinem
verlorenen Pferd in ferne Länder folgte, war ich auf seinem Köcher, als er den
sagenhaften Riesen mit seinem wunderwirkenden Schwert in zwei Teile zerschlug,
in dem fließenden Blut, als er mit der schönen Tochter des Schahs, bei dem er
zu Gast war, eine Liebesnacht verbrachte, in den Falten ihrer Decke. Ich war
überall und bin überall. Ich war dabei, als der treulose Tur seinem Bruder
Iretsch den Kopf abtrennte, als die sagenhaften Traumheere in den Steppen
aufeinander einschlugen, als nach einem Sonnenstich das Blut unaufhörlich aus
Alexanders hübscher Nase rann und dabei strahlend funkelte. Ich bin in dem
Kleid der schönen Besucherin des Sassaniden-Schahs Behram Gür, in deren Bildnis
er sich verliebt hatte und die er dienstags empfing, jenes Schahs, der jede
einzelne Nacht in der Woche mit einer herrlichen, jeweils aus einem anderen
Landstrich kommenden Schönheit unter einer jeweils andersfarbigen Kuppel
verbrachte und ihrer Erzählung lauschte, und ich bin, von der Krone bis zum
Kaftan, in jedem Kleidungsstück des Hüsrev, in den sich Şirin, sein
Bildnis betrachtend, verliebt hatte. Ich war auf den Fahnen der die Festungen
belagernden Heere, beim Festmahl auf der Tafeldecke, auf den samtenen Kaftanen
der Gesandten, die den Sultanen die Füße küssen, und dort, wo das Schwert
abgebildet war, dessen Geschichten die Kinder so innig lieben. Unter den Blicken
der Buchmalermeister von schönäugigen Lehrbuben auf die dicken Papiere aus
Indien und Buchara mit zartem Pinsel aufgetragen, habe ich die Teppiche von Uşak, den Schmuck der Wände, die Hemden
schöner Frauen, die gebeugt durch den Fensterspalt auf die Straße blickten, die
Kämme der aufeinander einhackenden Kampfhähne, die sagenhaften Früchte und
Granatäpfel sagenhafter Länder, den Rachen des Satans, die feine Linie in den
Umrahmungen, die krausen Ornamente der Zelte, die vom Illustrator zum eigenen
Ergötzen gemalten, mit bloßem Auge kaum erkennbaren Blumen, die Kirschenaugen
der Vögel aus Zuckerwerk, die Strümpfe der Schafhirten, die Morgenröten aus den
Legenden und die Leichen und Wunden Tausender, Zehntausender Krieger, Schahs
und Liebender gezeigt. Ich liebe es, in kriegerischen Szenen aufgetragen zu
werden, wo das Blut blütengleich aufspringt, oder auf den Kaftan des Meisters
der Poeten, während schöne Knaben und Dichter im Grünen beim Wein der Musik lauschen,
oder auf die Flügel der Engel, auf die Lippen der Frauen, auf die Wunden der
Toten und auf die abgeschlagenen blutigen Köpfe.
Ich höre euch fragen: Wie ist das,
wenn man eine Farbe ist?
Farbe ist die Berührung des Auges,
die Musik der Taubstummen, ein Wort in der Dunkelheit. Meine Berührung, würde
ich sagen, gleicht der Berührung der Engel, da ich seit Zehntausenden von
Jahren dem Raunen der Geister von Buch zu Buch, von einem Gegenstand zum
anderen wie
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