Pamuk, Orhan
ins
andere Zimmer und ließ den Tränen ihren Lauf. Die Kinder klammerten sich fest
an mich, als sie nach dem Essen zu Bett gingen, denn sie waren sehr
verängstigt. Aus Furcht vor bösen Geistern konnten sie lange Zeit nicht
einschlafen, wälzten sich herum und fragen: »Es raschelt, hörst du?« Damit sie
endlich ruhiger wurden und einschliefen, versprach ich ihnen eine
Liebesgeschichte. Ihr wißt, das Dunkel beflügelt die Worte.
»Mutter, du wirst niemanden
heiraten, nicht wahr?« wollte Şevket wissen.
»Hör zu«, sagte ich »es war einmal
ein Prinz, der sich von ferne in ein wunderschönes Mädchen verliebt hatte. Wie
das geschehen konnte? Weil er ihr Bild sah, bevor er die Schönste der Schönen
zu sehen bekam, deswegen.«
Wie immer in Zeiten der Trübsal und
des Unglücks erzählte ich meine Geschichte nicht so, als wäre sie mir bereits
bekannt, sondern als erfände ich sie in diesem Augenblick. Meine Erzählung
glich einer trauervollen Ornamentierung, die mein eigenes Erleben untermalte,
weil ich sie mit Hilfe meiner Gefühle und Gedanken, Erinnerungen und Leiden
erdichtet hatte.
Nachdem die Kinder eingeschlafen
waren, schlüpfte ich aus dem warmen Bett und sammelte mit Hayriye gemeinsam die
Gegenstände auf, die der widerliche Teufel durcheinandergeworfen hatte.
Während wir die gründlich ausgeweideten Truhen, die Bücher, Stoffe,
zerschmetterten Tassen, Näpfe und Schalen, Tintenfäßchen, den zerbrochenen
Buchständer, die Farbkästen, die haßerfüllt zerfetzten Papiere und Buchseiten
Stück für Stück zur Hand nahmen, ließ immer wieder eine von uns die Sachen
liegen und brach in Tränen aus. Es war, als ob uns das verheerende
Durcheinander der Räume und der Gegenstände, die Tatsache, daß man unsere häusliche
Intimität so bestialisch verletzt hatte, mehr als der Tod meines Vaters mit
Trauer erfüllte. Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, bedeutet es Trost für
diejenigen, die einen ihrer Lieben verloren haben, darauf zu achten, daß alles
im Haus wie gewohnt erhalten bleibt; sie lassen sich durch das unveränderte
Aussehen der Vorhänge, der Decken und des Tageslichts täuschen und glauben von
Zeit zu Zeit einfach nicht, daß Azrail den geliebten Menschen schon lange
mitgenommen hat. Die grausame Verwüstung unseres Hauses, das mein Vater mit
Geduld und Liebe gepflegt und von den Türen bis in alle Ecken ausgeschmückt
hatte, ließ uns nicht nur weder einen solchen Trost noch irgendeine Einbildung
übrig, sondern erinnerte uns zudem an die höllische Erbarmungslosigkeit des Täters
und versetzte uns in Furcht.
Wir waren auf meinen Wunsch
hinuntergegangen, hatten frisches Wasser aus dem Brunnen geholt, uns dem Gebot
gemäß gewaschen und lasen die von Hoffnung und Tod sprechende Ali-Imran-Sure,
die mein seliges Väterchen so sehr gemocht hatte, aus dem ihm ebenso
liebgewordenen Koran im Herater Einband, als wir beide zugleich voller Angst
das Knarren des Hoftors vernahmen, doch es folgte nichts weiter. Nachdem wir um
Mitternacht den Riegel des Hoftors geprüft und anschließend den Basilikumkübel – von meinem Vater morgens im Frühling stets mit eigens aus dem Brunnen
geholtem Wasser begossen – davorgeschoben hatten, glaubten wir plötzlich beim
Eintritt ins Haus, unsere Schatten, die vom Licht unserer Lampe verlängert
wurden, seien die eines Dritten. Nachdem ich schließlich den Tod meines Vaters
als vorherbestimmt hinnehmen mußte, wuschen wir in tiefem Entsetzen, als
begingen wir eine stille, heilige Handlung, das blutüberströmte Gesicht meines
Vaters und wechselten schweigend seine Kleidung – »Gib mir den Ärmel von unten
her«, flüsterte Hayriye.
Was uns aber staunen ließ, während
wir Vaters blutige Kleidung und Leibwäsche entfernten, war die lebendige,
weißliche Farbe, die seine Haut im Kerzenlicht annahm: Da wir uns beide
zitternd vor einer womöglich noch größeren Bedrohung fürchteten, hegten wir
keine Skrupel, den nackt ausgestreckten, mit Altersflecken und Wunden bedeckten
Körper meines Vaters ungeniert zu betrachten. Als Hayriye nach oben ging, um
seine frische Wäsche und sein grünes Seidenhemd zu holen, konnte ich auf
einmal nicht mehr an mich halten, schaute auch auf den Teil meines
Vaters und schämte mich dann dafür. Nachdem er sauber gekleidet und das Blut an
Hals, Gesicht und Haaren sorgfältig weggewischt worden war, umarmte ich meinen
Vater mit aller Kraft, vergrub meine Nase in seinem Bart, sog ausgiebig dessen
Duft ein und weinte lange
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