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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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widerstehen können.«
    Doch niemand hörte mir zu. Kara
erzählte die Geschichte von dem unglücklichen turkmenischen Bey, der der
Tochter des Schahs seine Liebe zu früh erklärt hatte und deswegen für zwölf
Jahre nach China in die Verbannung ging. Weil er kein Porträt seiner Geliebten
besaß, von der er zwölf Jahre lang träumte, vergaß er ihr Antlitz inmitten der
schönen Chinesinnen, und sein Liebesschmerz verwandelte sich in eine schwere,
von Allah auferlegte Prüfung. Natürlich wußten wir, daß diese Geschichte seine
eigene war.
    »Dank deinem Oheim haben wir nun
alle das Wort ›Porträt‹ gelernt«, sagte ich. »So Allah will, werden wir
eines Tages lernen, furchtlos unser eigenes Leben zu schildern, wie es wirklich
ist.«
    »Alle Märchen sind die Märchen
aller«, sagte Kara, »nicht die eines einzelnen Menschen.«
    »Und alle Illumination ist die
Illumination Allahs«, ergänzte ich mit den Versen des Dichters Hatifi von
Herat. »Doch wenn sich die Methoden der fränkischen Meister verbreiten, wird
jeder meinen, es sei eine Kunst, die Märchen anderer wie die eigene Geschichte
zu erzählen.«
    »Das ist es, was der Satan will.«
    »Laßt mich endlich frei«, schrie ich
mit aller Kraft, »damit ich die Welt ein letztes Mal betrachte!«
    Als ich sah, wie erschrocken sie
waren, gewann ich neue Zuversicht.
    Kara faßte sich zuerst: »Wirst du
das letzte Bild hervorholen?«
    Ich warf ihm einen solchen Blick zu,
daß er sofort begriff, ich würde es tun, und er ließ mich frei. Mein Herz
begann heftig zu schlagen.
    Ihr habt sicher schon längst jene
Person erkannt, die ich so lange verbergen wollte. Dennoch wundert euch nicht,
daß ich wie die alten Meister von Herat handelte: Nicht deshalb verheimlichten
sie ihre Signatur, damit niemand wußte, wer sie waren, sondern aus Ehrfurcht
vor den Meistern und den bestehenden Regeln. Ich ging mit der Lampe in der Hand
durch die stockdunklen Räume des Derwischkonvents und suchte aufgewühlt einen
Weg für meinen blassen Schatten. Hatte der dunkle Vorhang begonnen, sich über
meine Augen zu senken, oder waren diese Zimmer und Flure wirklich so finster?
Wieviel Zeit, Tage oder Wochen, blieb mir noch, bis ich blind wurde? Zwischen
den Gespenstern der Küche hielten wir an, mein Schatten und ich, holten die
Papiere aus der sauberen Ecke des staubigen Schranks hervor und gingen rasch
zurück. Kara war mir vorsichtshalber nachgegangen, hatte aber seinen Dolch nicht
bei sich. Wollte ich ihm womöglich den Dolch wegnehmen und auch ihn blenden,
bevor ich blind wurde?
    »Ich bin glücklich, dies noch einmal
sehen zu können, bevor ich blind werde«, erklärte ich stolz. »Ich möchte, daß
auch ihr es seht. Schaut her!«
    So zeigte ich ihnen beim Licht der
Öllampe das letzte Bild, das ich an jenem Tag, als ich den Oheim umbrachte, aus
seinem Haus mitgenommen hatte. Zuerst beobachtete ich ihre neugierig
ängstlichen Blicke, mit denen sie das bemalte Doppelblatt betrachteten. Ich zitterte
leicht, als ich mich abwandte, um das Bild mit ihnen gemeinsam anzuschauen. Es
war Fieber, entweder von den Stichen der Federbuschnadel in meine Augen oder
von dem Entzücken, das mich ergriffen hatte.
    Der Baum, das Pferd, der Satan, der
Tod, der Hund und die Frau, die wir alle im Lauf des letzten Jahres an
verschiedenen Stellen der Doppelseite abgebildet hatten, waren der neuen – wenn
auch etwas ungeschickten – Kompositionsmethode des Oheims entsprechend kleiner
oder größer auf eine solche Weise angeordnet, daß uns die Vergoldung und die
Umrahmungen des verstorbenen Fein Efendi den Eindruck gaben, nicht mehr auf die
Seite eines Buches, sondern aus einem Fenster hinaus auf die ganze Welt zu
schauen. Im Mittelpunkt jener Welt, an der Stelle, wo sich das Porträt unseres
Padischahs befinden sollte, war mein eigenes Porträt zu sehen, das ich kurz mit
Stolz betrachtete. Ich war ein wenig enttäuscht, daß es mir so wenig ähnlich
sah, obwohl ich tagelang in den Spiegel geblickt, gelöscht und neu gezeichnet
und ohne den rechten Erfolg so hart gearbeitet hatte, doch ich empfand auch
eine nicht zu unterdrückende Hochstimmung, weil mich das Bild nicht nur in den
Mittelpunkt der Welt setzte, sondern aus irgendeinem unerklärlichen,
teuflischen Grund viel tiefsinniger und mysteriöser zeigte, als ich wirklich
war. Ich wollte, daß meine Buchmalerbrüder diese Hochstimmung erkannten,
verstanden und mit mir teilten. Ich war sowohl der Mittelpunkt von allem,
gleich einem Sultan oder

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