Pan Tau
Zeit in den Fotografen Martin, der im Mansardenzimmer über ihrer Wohnung wohnt. Hier, wo wir sitzen.«
»Das verstehe ich nicht. Wie kann Martin hier wohnen, wenn Sie hier wohnen?«
»Er wohnte damals hier. Voriges Jahr zu Weihnachten. Vergessen Sie jetzt die Schildkröte, mich und Kleopatra. Jetzt, da unsere Geschichte anfängt, wohnt hier Martin. Es ist Heiliger Abend. Es schneit. Die ganze Stadt liegt unter Schnee. Die Dächer sind zuckerweiß. Die Schneewehe beim Schornstein des Hauses gegenüber beginnt sich langsam zu teilen. Die Spitze eines Regenschirms kommt zum Vorschein. Dann der ganze Regenschirm. Dann eine Hand. Dann...
»Pan Tau?«
Vivians Weihnachtsmärchen beginnt. Es ist ein ganz und gar verworrenes Märchen und heißt: Pan Tau beschert
Am meisten zu tun haben zu Weihnachten die Briefträger, die Fischer und die Förster. Auch die Väter und Mütter. Die Briefträger müssen Tausende von Ansichtskarten austragen, damit wir erfahren, daß Onkel Alois uns fröhliche Weihnachten wünscht. Oder Tante Emma. Die Fischer müssen Tausende von Karpfen fischen, denn ohne Weihnachtskarpfen gibt es keine Weihnachten. Die Förster müssen Tausende von Tannen, Fichten oder Kiefern in die Stadt schicken, und die Väter müssen diese Tannen, Fichten oder Kiefern in Ständer stellen, sie mit Glaskugeln und Glitzerketten schmücken und auf jeden Zweig eine Wunderkerze und eine gewöhnliche Kerze stecken. Die Mütter müssen den Weihnachtskarpfen braten und Weihnachtsgebäck backen, die schönsten Nüsse auf den Tisch stellen und die Äpfel glänzend polieren. Am schlimmsten ergeht es den Briefträgern, die Väter sind, denn sie müssen Tausende Weihnachtsgrüße von Onkel Alois oder Tante Emma austragen, und erst dann können sie: den Karpfen schlachten,
den Christbaum aufstellen,
den Christbaum schmücken,
die Geschenke verpacken, die Geschenke verstecken, das Gebäck kosten,
das Gebäck loben,
die Wasserleitung reparieren,
dem wackeligen Tisch etwas unterlegen und noch tausend andere Dinge tun, nur deshalb, weil Weihnachten ist. Zum Beispiel einen Stuhl auf den andern stellen, auf den ersten Stuhl steigen und einen Mistelzweig an die Deckenlampe hängen. Oder den Hund aus der Wohnung werfen, wenn die Mutter sagt: »Jag den Hund auf den Balkon. Er hat das Gebäck aufgefressen.« Emils Vater war Briefträger. Eben kam er vom Dienst heim. Er hatte eintausendfünfhundertdreiundzwanzig Grüße Fröhliche Weihnachten, eine Ansichtskarte mit Schneewittchen und Happy New Year und einen Eilbrief aus Irkutsk ausgetragen. Auf dem Stempel war die geheimnisvolle Aufschrift Mupy Mup, mit Ausrufezeichen. Nach einem Blick ins russische Wörterbuch stellte der Vater fest, daß Mupy Mup Friede für die Welt heißt. Er machte das Wörterbuch zu und sagte: »Ja, Mutti!«
Mit einem Seufzer packte er Alik und warf ihn auf den Balkon hinaus. Dann kehrte er zu seinen Pflichten zurück:
den Karpfen schlachten,
den Christbaum aufstellen,
den Christbaum schmücken...
Von all dem wußte Pan Tau nichts. Er wußte nicht einmal, daß Weihnachten war. Von seinem Platz auf dem Dach (beim dritten Schornstein von rechts) sah er nur den traurigen Hund, der auf den Balkon verbannt worden war, sich auf allen Vieren platt hinlegte und beleidigt winselte und seufzte. Das hörte sich so an: Aaaauuuaaach!
Dieses Winseln kenne ich, dachte Pan Tau und erinnerte sich an die Berge, den Schnee und den Hund Alik. Schnell trat er an den Rand des Daches, um zu sehen, ob es wirklich Alik war. Es war wirklich Alik-Nikolaus, den Pan Tau Emil beschert hatte. Der Hund winselte schon längst nicht mehr. Er wedelte begeistert mit dem Schwanz und blickte voll Hoffnung auf den Dachrand des Hauses gegenüber, wo sein Freund mit Melone und Regenschirm stand. Pan Tau aber hob die Hand mit dem Regenschirm in die Höhe und winkte Alik wie zum Gruße zu.
Dann trommelte Pan Tau leicht auf seine Melone und fuhr mit dem Finger am Hutrand einmal nach links und einmal nach rechts. Im gleichen Augenblick hatte er sich in einen winzig kleinen Pan Tau verwandelt, der, an seinem aufgespannten Regenschirm hängend, über die Dächer der Häuser hinwegschwebte.
Vivians Märchen geht weiter. Weihnachten ist das Fest der Stille und des Friedens
Mupy Mup, wiederholte Emils Vater vergnügt die zwei russischen Wörter, die er auf dem Poststempel entdeckt hatte, und schraubte dabei den Ständer für den Weihnachtsbaum zusammen. Weihnachten ist das Fest des Friedens. Jawohl,
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