Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
her.
Vivana öffnete das Fläschchen mit der Tinktur. »Achtung, das brennt jetzt etwas.«
Liam zuckte zusammen, als sie die Schramme an seiner Augenbraue einrieb.
»So, jetzt kann sie sich wenigstens nicht mehr entzünden.« Sie ging zu einem der Regale und holte die Gaslampe heraus, die Quindal im Keller benutzt hatte.
»Was hast du vor?«
»Du willst doch nicht schon nach Hause, oder?«
Liam dachte gar nicht daran - er genoss das Zusammensein mit ihr viel zu sehr. »Sehe ich so aus?«, fragte er grinsend.
»Komm mit. Ich will dir etwas zeigen.«
Sie gingen zur Eingangshalle und von dort aus durch einen Flur, der zum Eckturm des Hauses führte. Während er Vivana die Treppe hinauffolgte, sah Liam im Schein ihrer Lampe, dass Staub auf den Stufen lag und die Wände in einem schlechten Zustand waren. Überall zeigten sich Risse und bröckelte der Putz herunter.
»Ihr benutzt diesen Flügel schon eine Weile nicht mehr, was?«
»Mein Vater lässt alles verkommen. Wenn ich nicht hin und wieder sauber machen und die schlimmsten Schäden ausbessern würde, wäre der Turm wahrscheinlich längst in sich zusammengefallen.«
Die Treppe endete an einer Tür, die so verzogen war, dass Vivana sie nur mit Mühe öffnen konnte. Dahinter lag das kleine Observatorium, das Liam von außen gesehen hatte.
Sie drehte die Lampe ab und stellte sie auf den Boden. Die unteren Segmente der Glaskuppel waren blind vor Staub und Spinnweben, aber die oberen boten einen ungetrübten Blick auf das nächtliche Firmament. Sternenlicht fiel auf das Teleskop, das in der Mitte des Raumes stand.
Vivana setzte sich auf das Messinggestänge der Apparatur und ließ die Beine baumeln. »Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, komme ich hier herauf und sehe mir den Himmel an. Erwirkt so unfassbar weit, dass einem Bradost dagegen winzig erscheint. Irgendwie beruhigend, oder? Zu wissen, dass unsere Probleme im Grunde bedeutungslos sind.«
»Benutzt dein Vater das Observatorium noch?«, fragte Liam.
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat es für meine Mutter eingerichtet. Sie liebte die Sterne. Früher sind sie oft gemeinsam hier gewesen und haben die Sternbilder betrachtet, aber seit ihrem Tod hat er den Turm kaum noch betreten. Ich glaube, er erträgt die Erinnerungen an sie nicht.«
Liam setzte sich neben sie. Ihre Arme berührten sich, aber Vivana rückte nicht von ihm weg. »Woran ist sie gestorben?«
»Der Kummer hat ihr das Herz gebrochen.« Vivana streifte ihn mit einem Blick, dann schaute sie wieder zum Sternenhimmel auf. »Sie war eine Wahrsagerin wie Tante Livia. Mein Vater ist damit nicht zurechtgekommen - ich habe dir ja erzählt, was er von Magie hält. Es verging keine Woche, in der sie nicht deswegen stritten. Irgendwann hat er angefangen, alles
abzulehnen, was mit den Manusch zu tun hat. Ihre Sprache, ihre Musik, ihre gesamte Lebensweise. Ich glaube, am liebsten hätte er meine Mutter verwandelt. In eine gewöhnliche Frau aus Bradost oder, noch besser, in eine Wissenschaftlerin, die genauso denkt wie er.«
»Warum hat sie ihn nicht verlassen?«
»Das hat sie versucht, aber sie konnte es nicht. Trotz allem liebte sie ihn. Irgendwann wurde sie schwermütig und hat immer weniger gegessen. Ein paar Monate später ist sie gestorben.«
Liam begann zu verstehen, warum die Manusch und Quindal einander ablehnten. »Hasst du ihn deswegen?«
»Ich hasse ihn nicht«, sagte sie, »auch wenn es vielleicht so aussieht. In gewisser Weise kann ich sogar verstehen, warum er sich so verhalten hat. Die Welt der Manusch macht ihm Angst. Er fürchtete, meine Mutter daran zu verlieren.«
Liam musterte sie. Ein Mädchen wie Vivana hatte er noch nie getroffen. Sie war so anders als die Mädchen von Scotia, mit denen er aufgewachsen war, nachdenklicher und irgendwie … erwachsener. Vielleicht war das der Grund, warum er das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen, obwohl sie sich erst vor wenigen Tagen begegnet waren.
Sie bemerkte seinen Blick. »Du bist der Erste, dem ich diese Dinge erzähle. Merkwürdig, oder?«
Er lächelte. »Ein bisschen.«
»Na ja, du warst offen zu mir. Da ist es nur fair, dass ich auch offen zu dir bin.« Sie wippte mit den Beinen und begann, auf ihrer Unterlippe zu kauen. Als sie weitersprach, lag leichte Anspannung in ihrer Stimme. »Wie ist es, Liam, verträgst du heute Abend noch ein bisschen mehr Ehrlichkeit?«
»Wie meinst du das?«
»Ich fürchte, ich muss dir etwas gestehen. Etwas, das dir nicht gefallen
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