Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
an seiner Haut.
Entsetzen packte ihn.
»Aziel«, ächzte er und taumelte zurück, stolperte über den Hocker und fiel zu Boden. Während der Eindringling näher kam, kroch er rückwärts, bis er gegen die Wand stieß.
»Geh weg«, flüsterte er. »Geh weg, oder ich rufe die Wachen.«
»Ich bin nicht Aziel«, knurrte der Weißhaarige. »Aber er wird bald hier sein. Jetzt steh auf. Wir haben nicht viel Zeit.«
Jackon konnte sich vor Grauen nicht bewegen. Wieso behauptete der Mann, er sei nicht Aziel, wenn er doch genauso aussah?
Der Fremde beugte sich über ihn, hob die Kerze auf und hielt sie sich vor das Gesicht. »Sieh mich an. Glaubst du mir jetzt?«
Jackon blinzelte. Langsam wurde ihm klar, dass der Mann Aziel nur sehr stark ähnelte, dank seiner schwarzen Haut und seines schlohweißen Haares. Aber das Gesicht war anders geschnitten, und er trug auch keinen Bart.
»Wer … wer bist du?«, stammelte er.
»Mein Name ist Lucien.«
Eine verschwommene Erinnerung huschte durch Jackons Gedanken. Er hatte diesen Fremden schon einmal gesehen - aber wo? Er wusste es nicht mehr. Vielleicht in einem Traum?
Als er keine Anstalten machte aufzustehen, wollte der Mann ihn an den Schultern packen, zog jedoch plötzlich seine Hände zurück, als würde ihn die Berührung schmerzen.
»Was ist das da an deinem Hals?«, fragte er scharf.
»Ich … verstehe nicht …«
»Ist das ein Talisman? Ein Drudenfußamulett?«
»Ja«, antwortete Jackon verwirrt.
»Gut. Behalte es an. Du wirst es noch brauchen. Und jetzt steh endlich auf.«
Mühsam kam er auf die Füße.
»Hör mir zu«, befahl der Mann. »Du musst sofort von hier verschwinden. Aziel sucht nach dir. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er im Palast ist.«
»Im Palast?«, echote Jackon. »Aber die Spiegelmänner …«
»Vergiss sie. Er hat eine Horde Ghule dabei, und sie sind hungrig. Die Spiegelmänner können sie vielleicht eine Weile aufhalten, aber mehr auch nicht.«
Jackon war kaum noch in der Lage, klar zu denken, denn ein einziger Gedanke übertönte alle anderen: Aziel hat mich gefunden, und er ist bereits auf dem Weg hierher! Als er jedoch hörte, wovon der Fremde sprach,verschwand seine Verwirrung schlagartig und wich neuem Grauen. »Ghule? Wieso Ghule?«
Der Mann gab keine Antwort. Stattdessen eilte er zur Tür. »Komm. Du musst dich irgendwo verstecken.«
Jackon rührte sich nicht von der Stelle. »Aber wir müssen die anderen warnen. Die Ghule werden sie sonst töten!«
»Dafür haben wir keine Zeit!«
»Das ist mir egal. Ich lasse nicht zu, dass Liam etwas geschieht.«
»Wer zum Teufel ist Liam?«, fragte Lucien.
Doch Jackon hatte sich bereits an ihm vorbeigeschoben und stürzte aus dem Zimmer.
Liam strich Vivana über das Haar und schloss die Augen, um sie abermals zu küssen, doch sie löste sich aus seiner Umarmung.
»Genug für heute«, sagte sie. »Wir haben noch etwas anderes zu tun, schon vergessen?«
»Wirklich?« Er grinste schief. »Hilf mir auf die Sprünge. Ich bin gerade etwas … durcheinander.«
»Nicht nur du. Trotzdem müssen wir das Buch fortschaffen. Hast du hier irgendwo eine Lampe oder so?«
Er holte die Kerze, die auf seinem Tisch stand, und zündete sie an. Flackerndes Licht erfüllte das Zimmer. Liam schaute Vivana an und stellte verwundert fest, dass er zum ersten Mal seit vielen Tagen etwas anderes als Schmerz empfand - dass er glücklich war. Die Trauer um seinen Vater, die Furcht und der Hass, die ihn seit Wochen quälten, waren nicht verschwunden, aber jetzt, in diesem Augenblick, wusste er, dass er die Kraft hatte, damit fertig zu werden. Vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht einmal in einem Monat - aber irgendwann.
»Was ist?«, fragte Vivana, als sie seinen Blick bemerkte.
»Nichts. Ich habe nur nachgedacht.«
»Das geht alles ganz schön schnell, oder?«, erwiderte sie nachdenklich. »Ich meine, es ist gerade mal ein paar Tage her, dass wir uns das erste Mal gesehen haben.«
»Ja.« Er lachte leise.
»Hast du gewusst, dass es so kommen würde?«
»Irgendwie schon.«
»Ich auch. Seltsam, nicht wahr?«
Sie schwiegen.
»Ich glaube, wir haben einiges zu bereden, Liam Satander«, sagte Vivana schließlich.
»Sieht ganz so aus.«
»Was hältst du davon: zuerst das Buch und dann wir?«
»Einverstanden.« Liam setzte sich aufs Bett. »Gibst du mir deine Tasche? Ich will es mir noch mal ansehen.«
Sie setzte sich neben ihn und reichte ihm die Tasche, aus der er das Buch nahm. Schwer lag es
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