Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
nicht«, antwortete Vivana.
»Glaubst du, deine Tante kann das lesen?«
»Fragen wir sie einfach.«
»Gut.« Mit dem Buch in den Händen stand er auf. »Verschwinden wir.«
Vivana verstaute den Folianten in ihrer Umhängetasche, und sie stellten die Lampen zurück an ihren Platz. Liam öffnete die Tür einen Spalt und überzeugte sich davon, dass gerade kein Spiegelmann in ihre Richtung blickte. Dann verließen sie die Bibliothek und huschten verstohlen an den Maskierten vorbei, die ihnen im Kuppelsaal und dem Korridor begegneten.
Sie hatten es tatsächlich geschafft. Alles war so schnell gegangen, dass Liam es noch gar nicht glauben konnte. Nun würde er endlich erfahren, was die Pläne seines Vaters gewesen waren.
In der Eingangshalle hörte er, wie irgendwo eine Tür zugeschlagen wurde. Hallende Schritte näherten sich aus einem der Flure. Liam ergriff Vivanas Arm und zog sie hinter einen Pfeiler. Keine zwei Sekunden später trat eine Gestalt aus dem Durchgang. Lady Sarka. Der Saum ihres karmesinroten Kleides strich über die Bodenplatten, während sie mit herrischer Miene durch die Halle schritt.
Liam hielt den Atem an. Wenn die Lady sie bemerkte und wissen wollte, was sie hier zu suchen hatten, konnte er sich vielleicht herausreden. Entdeckte sie aber das Buch in Vivanas Tasche … Er wagte sich nicht vorzustellen, was dann geschehen würde.
Die Schritte näherten sich ihrem Versteck. Geh weiter! Nicht stehen bleiben! , betete er und presste sich gegen den kühlen Stein der Säule.
Er glaubte zu hören, dass Lady Sarka kaum merklich langsamer wurde. Hatte sie etwas gehört? Er machte sich darauf gefasst, dass sie jeden Moment neben ihm erscheinen und ihn mit ihren kalten Augen anblicken würde.
Sie ging weiter. Kurz darauf verschwand sie im Korridor, der zum Kuppelsaal führte.
Leise ließ Liam den angehaltenen Atem entweichen. Der
Schreck saß ihm so tief in den Gliedern, dass er beschloss, hier zu warten, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er beide Arme um Vivana gelegt und sie eng an sich gedrückt hatte. Er wusste, er sollte sie loslassen, aber er konnte es nicht.
Sie blickte ihn an: dunkle Augen, so geheimnisvoll wie die Nacht. Ihr Gesicht war so nah bei seinem, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte. Er konnte fühlen, wie ihr Herz klopfte, noch heftiger als seines.
Bevor ihre Lippen einander berührten, flüsterte sie: »Nicht.«
Verwirrt sah er sie an. Er war sich so sicher gewesen, dass sie es auch wollte.
»Nicht hier.« Sie lächelte zögernd und wies ihn mit einem Nicken auf die Spiegelmänner auf der anderen Seite des Saales hin.
»Oh. Natürlich.«
Sie ergriff seine Hand, und lautlos eilten sie durch die Halle, durch stille Flure und Räume, zu seiner Kammer. Liam schloss die Tür hinter sich und sank mit dem Rücken gegen das Holz.
Sie waren in Sicherheit. Vorläufig wenigstens.
Vivana legte ihre Tasche ab. Dann stand sie reglos da, nichts als ein Schemen in der Dunkelheit seines Zimmers. Langsam trat sie zu ihm, hob die Hand, legte sie auf seine Wange, fuhr ihm durch das Haar.
Sie küsste ihn.
Über der Stadt brach das Gewitter los.
Lucien hetzte durch nachtschwarze Tunnel und halb eingestürzte Gewölbe, sprang über bodenlose Gräben und Haufen aus Schutt, zwängte sich durch verrostete Gitter, erklomm eiserne Leitern, hastete ausgetretene Stufen hinauf. Sein Wams
war zerrissen, seine Haut brannte von unzähligen Schrammen und Kratzern, wo die Krallenhände der Ghule ihn verletzt hatten, bevor er ihnen entkommen war. Doch er hatte seine grausigen Verfolger noch lange nicht abgeschüttelt. Manchmal konnte er ihre glühenden Augen in der Finsternis sehen, konnte hören, wie sie krächzten und wisperten, voller Gier nach seinem Blut. Dann lief er noch schneller, obwohl ihn allmählich die Kräfte verließen.
Eine unterirdische Halle tat sich vor ihm auf. Rost und Moder bedeckten den Boden, die Wände glänzten feucht. Riesige Zahnräder und die Gestänge und Kessel alter Maschinen erhoben sich vor ihm, bizarre Gebilde aus Stahl und Messing, verbogen, geschmolzen und lange vergessen. Durch einen Deckenschacht fiel das Flackern eines Blitzes herein.
Lucien rannte eine Rampe hinauf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen eine Tür, bis das Blech ächzend nachgab und er ins Freie stolperte. Regen klatschte ihm ins Gesicht. Sturmböen pfiffen um Kamine und Bleidächer.
Einen Steinwurf entfernt, auf einem Hügel,
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