Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
missgestaltete Zwergenwesen - es war hier! Er packte Vivana am Arm. »Wir müssen sofort von hier verschwinden!«
»Nein, warte.« Sie nahm die Lampe und trat zu dem Durchgang, aus dem die Laute gekommen waren.
Wieder rasselten Ketten. Liam konnte nicht glauben, dass Vivana geradewegs darauf zuging, während in ihm alles danach schrie davonzulaufen. Fluchend gab er sich einen Ruck und folgte ihr.
Der Lampenschein fiel in eine kleine Kammer ohne Fenster. Ein kaum wahrnehmbarer Geruch nach verdorbenem Fleisch lag in der Luft. In der Mitte hing ein eiserner Käfig - und darin kauerte die abstoßendste Kreatur, die Liam je gesehen hatte.
Das Wesen war halb so groß wie ein Mensch und besaß graue, ledrige Haut, die überall verhornte Wülste bildete. Die kurzen Beine waren verkrüppelt, die beiden Arme unterschiedlich lang; mit seinen Krallenhänden umklammerte es die Gitterstäbe. Auf dem Rumpf saß ein gedrungener Kopf, der anstelle von Augen zwei Höhlungen aufwies.
Liam wusste sofort, dass er jenes Geschöpf vor sich hatte,
das ihm bei seinem ersten Streifzug durch den Palast gefolgt war. Vor Entsetzen brachte er kein einziges Wort heraus.
Mit der Lampe in der Hand ging Vivana näher an den Käfig heran. In ihrem Gesicht zeigte sich eine Mischung aus Abscheu und Faszination. »Ich glaube, ich weiß, was das ist«, sagte sie.
»Was?«, ächzte Liam.
»Ein Homunculus. Vermutlich der erste, den die Lady erschaffen hat. Sie hatte die Prozedur noch nicht vollständig verstanden, weshalb einiges … danebenging.«
»Du meinst, er hätte ein Spiegelmann werden sollen?«
»Ich glaube schon. Wahrscheinlich musste sie viele Experimente durchführen, bis es ihr endlich gelungen ist, einen Homunculus in menschlicher Gestalt zu erschaffen. Dieser arme Kerl ist ein misslungener Versuch, schätze ich.«
»Woher weißt du das alles?«
»Tante Livia versteht ein wenig von Alchymie. Sie erzählt mir das eine oder andere.«
Liam bezwang seinen Ekel und trat neben Vivana. Das Geschöpf gab einen weiteren schmatzenden Laut von sich. Es war offensichtlich, dass es nicht sprechen konnte - was Liams Glück war, andernfalls hätte es ihn womöglich verraten.
Als er begriff, dass keine Gefahr von dem Wesen ausging, regte sich ein unerwartetes Gefühl in ihm: Mitleid. Er begann, die Kreatur zu bedauern. Sie lebte gefangen in einem Käfig, verurteilt zu einer Existenz als Missgeburt, nur weil Lady Sarka beschlossen hatte, sich eine Horde nichtmenschlicher Krieger zu erschaffen. Liam fragte sich, ob sich das Geschöpf manchmal nach Freiheit sehnte. Vielleicht hatte er es deswegen getroffen - weil es aus seinem Gefängnis ausgebrochen war und versucht hatte zu fliehen.
»Sieh mal da«, sagte Vivana mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Sie wies auf ein kleines Schild, das am Käfig angebracht war. Darauf stand ein Name: Primus.
»Warum gibt die Lady diesem Ding einen Namen?«, fragte Liam fassungslos. »Hängt sie etwa daran?«
Diese Vorstellung schien Vivana genauso zu verstören wie ihn. Sie zuckte nur mit den Schultern. »Komm. Lass uns nach dem Buch suchen.«
Liam war erleichtert, als sie die Kammer endlich verließen. In einem Regal entdeckten sie eine zweite Lampe, sodass er einen Teil der Bibliothek absuchen konnte und Vivana den anderen. Sie wusste, worauf sie achten musste, denn er hatte ihr von der Abbildung erzählt, die Quindal ihm gezeigt hatte.
Eine halbe Stunde lang schritt Liam die Regale ab, ohne etwas zu finden. Als Vivana leise nach ihm rief, eilte er zu ihr.
Sie kniete neben einer Kiste, deren Deckel offen stand. Darin lag ein Buch. Der Einband bestand aus einem lederähnlichen, ockergelben Material. Darauf war ein Phönix abgebildet, der mit ausgebreiteten Flügeln aus einem Feuer aufstieg.
»Das ist es!«, flüsterte Liam und holte das Buch heraus. Ehrfürchtig strich er über das rissige Leder. »Wie bist du darauf gekommen, dass es in der Kiste ist?«
»Ich dachte, dass ein wichtiges Buch wie dieses nicht einfach so im Regal steht. Los, schlag es auf.«
Nervös biss er sich auf die Unterlippe, während er in den vergilbten Seiten blätterte. Sie waren voller fremdartiger Buchstaben und Symbole. Er hatte nicht damit gerechnet, ein Buch, das aus dem fernen Yaro D’ar stammte, lesen zu können, dennoch verspürte er einen Hauch von Enttäuschung. Irgendwie hatte er doch gehofft, darin augenblicklich die Antworten zu finden, die er suchte. »Was ist das für eine Sprache?«
»Ich weiß es
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