Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
gefragt, wo du steckst.«
»Tut mir leid. Wobei soll ich euch helfen?«
»Du kannst dich später um die Pferde kümmern. Andulin lahmt. Vielleicht bringst du ihn zu Farkas, damit er ihn sich ansieht. Aber das hat Zeit. Jetzt setz dich erst einmal zu uns und iss etwas. Ich habe Suppe auf dem Feuer.«
Vivana war nicht nach Gesellschaft zumute. »Wo ist Tante Livia?«
»In ihrem Wagen.«
Ruac regte sich auf ihren Schultern, als sie in den Schatten des Sonnensegels trat. Er liebte Hitze und wollte offenbar in der Sonne bleiben. Vivana setzte ihn auf das warme Kopfsteinpflaster, wo sich der Tatzelwurm zusammenrollte und die Schnauze unter die Schwanzspitze schob.
Sie öffnete die Tür von Tante Livias Wagen und kletterte hinein.
Der Duft von glimmendem Sandelholz empfing sie, und wegen der zugezogenen Vorhänge herrschte ein schattiges Zwielicht im Innern des Wagens. Ihr war, als betrete sie einen verzauberten Ort fern vom Lärm und Gestank Bradosts. Ein halbes Dutzend alter Folianten stand auf einem kleinen Regal. Zedernholztruhen enthielten Tränke und Talismane aus Kupfer. Kräuter trockneten an Schnüren unter der Decke.
Tante Livia saß an einem Tischchen, die üppigen rotbraunen Locken mit einem Tuch zurückgebunden. Sie warf Knochen in eine silberne Schale.
»Setz dich«, sagte sie, ohne von den Knochen aufzusehen.
Vivana nahm auf einem dreibeinigen Hocker Platz. »Was siehst du?«
Ihre Tante wirkte beunruhigt. »Die Zeichen sind nicht eindeutig. Etwas geschieht in der Schattenwelt.«
Vivana betrachtete die Knochen in der Schale und wünschte, sie wäre in der Lage, ihre Geheimnisse zu erkennen. »Etwas, das dir Angst macht?«
»Kannst du dich noch daran erinnern, wie der Phönix verschwunden ist?«
»Natürlich.« Vivana würde diesen Tag nie vergessen.
»Etwas Ähnliches ist wieder passiert.«
»Ein Schattenwesen hat die Welt verlassen?«
»Nicht nur eines. Viele.«
»Aber Schattenwesen verschwinden jeden Tag.«
»Nicht in diesem Ausmaß. Etwas ist diesmal anders. Aber Genaueres kann ich noch nicht sagen. Ich muss mich mit anderen Wahrsagern beraten.«
Vivana hatte ihre Tante schon lange nicht mehr so nachdenklich erlebt. »Zeig mir die Kunst des Knochenorakels«, sagte sie. »Dann kann ich dir helfen.«
»Du kennst doch meine Meinung dazu.«
Livia war der Ansicht, sie sei noch zu jung für die geheimen Künste der Manusch, dabei wusste Vivana mit ihren sechzehn Jahren mehr über die Schattenwelt als die meisten Bewohner Bradosts. »Ich bin alt genug«, gab sie zurück.
»Überlass es mir, das einzuschätzen.« Livia steckte die Knochen in einen Lederbeutel, den sie zusammen mit der Silberschale in eine Kiste legte.
Vivana seufzte. Es war zwecklos, mit ihrer Tante darüber zu reden. Sie stand auf und betrachtete die Bücher auf dem Bord, deren Lederrücken mit unverständlichen Schriftzeichen versehen waren.
»Was suchst du?«, erkundigte sich Livia.
»Hast du schon einmal etwas vom Gelben Buch von Yaro D’ar gehört?«
»Wieso fragst du?«
»Mein Vater hat davon gesprochen.«
»Dein Vater? Seit wann interessiert er sich für solche Dinge?«
Vivana zuckte mit den Schultern. Sie schlug eines der Bücher auf und blätterte darin, allerdings konnte sie den Text nicht lesen. Zwar beherrschte sie die Sprache der Manusch einigermaßen, die Schrift jedoch hatte sie nie gelernt.
»Sei vorsichtig damit«, sagte Livia. »Das Buch ist sehr alt.«
»Kennst du dieses Buch nun oder nicht?«
»Es ist sehr selten. Ich kenne niemanden, der es je gesehen hat. Manche bezweifeln gar, dass es überhaupt existiert.«
»Wovon handelt es?«
»Man sagt, es enthalte alte Zaubersprüche. Magische Rituale des Südens, die vor langer Zeit in Vergessenheit geraten sind.«
Dass sich ihr Vater, ein verbissener Verfechter von Wissenschaft und Vernunft, mit Zauberei beschäftigte, war in der
Tat erstaunlich. Und was hatte Liam Hugnall, oder wie immer er hieß, damit zu tun? »Glaubst du, Lady Sarka besitzt ein Exemplar?«
»Möglich. Viele Alchymisten studieren die alten Künste. In welchem Zusammenhang hat dein Vater das Buch erwähnt?«
»Das weiß ich nicht so genau.«
Livia hob eine Augenbraue. »Du hast ihn wieder belauscht, richtig?«
Mit gerunzelter Stirn stellte Vivana das Buch zurück. »Was bleibt mir schon anderes übrig? Er erzählt mir ja nichts.«
»Wieso machst du so ein Gesicht? Habt ihr euch gestritten?«
»Er wollte mir verbieten herzukommen.«
Livia wurde ernst. »Weswegen
Weitere Kostenlose Bücher