Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
ölverschmierter Kleidung schirmte seine Augen vor dem Sonnenlicht ab, während er die Ladung begutachtete. »Sind das die Letzten?«, fragte er.
»Ja.« Liam nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche, nachdem er vom Kutschbock gestiegen war.
»Abladen!«, brüllte der Arbeiter, woraufhin mehrere Männer herbeieilten und begannen, Eisenträger, Rotorblätter und andere Luftschiffteile zur Halle zu tragen. Als sie fertig waren, verteilte Liam ein paar Münzen Trinkgeld, was ihm freudige Dankesrufe einbrachte. Dann stieg er wieder auf und fuhr los.
In der Stadt herrschte eine beinahe gespenstische Ruhe. Die Menschen sahen zu, dass sie ihre Geschäfte erledigten, und gingen auf dem schnellsten Weg nach Hause, falls sie
ihre Wohnungen überhaupt verließen. Viele Läden hatten geschlossen. Niemand wagte es, laut zu sprechen oder auf andere Weise aufzufallen, aus Angst, die Aufmerksamkeit der Pikeniere zu erregen, die in Vierergruppen durch die Straßen patrouillierten. Der Phönixplatz, wo fast alle Unruhen der letzten Wochen ihren Anfang genommen hatten und wo es normalerweise vor fliegenden Händlern, obskuren Predigern und Spontanrednern nur so wimmelte, wirkte wie ausgestorben. Liam begegnete lediglich einem Tross von Arbeitern, die das Kopfsteinpflaster ausbesserten. Sogar die Aetherbörse hatte vorübergehend die Geschäfte eingestellt.
Und auf sämtlichen Dächern saßen Krähen und beobachteten das Geschehen auf den Straßen.
Auch am zweiten Tag nach dem Anschlag hatte die Angst Bradost fest im Griff. Jeder fürchtete, er könnte der Nächste sein, an dessen Tür die Spiegelmänner klopften.
Als Liam die Chimärenbrücke erreichte, hielt er den Wagen an. Vor ihm lag Scotia mit seinen windschiefen Dächern, Wetterfahnen und bemalten Türen. Mit seinen Gassen, die er wie seine Westentasche kannte. Es war gerade einmal zwei Wochen her, dass er seinen Karren mit den Aetherfässern durch die Straßen geschoben hatte und in den Aufruhr geraten war. Doch es erschien ihm wie eine Ewigkeit.
Er blickte zum Hügel hinauf. Die Kuppel der Sternwarte glühte in der Abendsonne.
Jemand hatte die Fenster zugenagelt. An der Tür hing vermutlich ein Schild, das ihn aufforderte, sich bei seiner Rückkehr nach Bradost umgehend beim Ministerium der Wahrheit zu melden. Liam stellte sich vor, wie er durch die Zimmer ging: von seiner Kammer in den Eingangsraum, weiter in die Küche und das Zimmer seines Vaters, die Treppe hinauf zur Kuppel mit dem Blitzfänger. Überall sah er Staub liegen, auf den Aetherfässern, den Möbeln, seinen Büchern, bevor ihm klar
wurde, dass die Spiegelmänner wahrscheinlich das meiste davon beschlagnahmt und leere Zimmer zurückgelassen hatten.
Auch seinen Vater hatten sie mitgenommen und in irgendeinem namenlosen Grab am Stadtrand verscharrt.
Liam schlang die Zügel so fest um seine Hand, dass das Lederband schmerzhaft in sein Fleisch schnitt. Zum hundertsten, zum tausendsten Mal fragte er sich, warum sein Vater ihn nicht früher ins Vertrauen gezogen hatte. Hätte Liam von seinen Plänen gewusst, hätte er vielleicht verhindern können, dass er in Gefahr geriet, hätte ihm helfen können, mehr über das Gelbe Buch herauszufinden, ohne dass Corvas davon erfuhr. Aber in seiner Vorsicht hatte sein Vater niemandem vertraut, nicht einmal dem eigenen Sohn.
Liam wünschte sich nichts mehr, als ein letztes Mal zur Sternwarte zu gehen, durch die Zimmer zu wandern und nachzuholen, was er wegen seiner überstürzten Flucht nicht hatte tun können: Abschied zu nehmen - von seinem Zuhause, seinem alten Leben, seinem Vater. Aber es war zu gefährlich. Im Grunde durfte er sich nicht einmal hier aufhalten, am Rande Scotias, denn das Risiko, dass ihn jemand sah und erkannte, war zu groß. Er war jetzt Liam Hugnall. Liam Satander existierte nicht mehr. Besser, er fand sich endlich damit ab.
Er trieb die Pferde an und fuhr über die Brücke.
Die Sonne stand bereits tief über den Dächern, als er den Palast erreichte. Das Luftschiff war inzwischen verschwunden, allerdings erinnerten nach wie vor umgeknickte Bäume, ausgerissene Büsche und zerfurchtes Erdreich an den Absturz. Zwar hatten Jackon, Ibbott Hume und er die schlimmsten Schäden beseitigt, doch bis sich der Garten von der Zerstörung vollständig erholt haben würde, würden Monate vergehen.
Liam stellte den Wagen im Schuppen ab und brachte die Pferde zu den Ställen, bevor er in den Gesindeflügel ging und mit den anderen zu Abend aß. Jackon
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