Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Scherze.
»Bringen wir Liam zum Wanderzirkus«, sagte Tante Livia. »Dort werde ich sehen, was ich für ihn tun kann.«
»Sollten wir nicht einen Priester um Hilfe bitten?«, mischte sich Vivanas Vater ein. »Oder einen Arzt?«
Der Blick, mit dem die Wahrsagerin ihn bedachte, war nicht gerade freundlich. »Eure Priester sind machtlos gegen Dämonen. Von euren Ärzten ganz zu schweigen. Wir nehmen den Jungen mit zu uns, ob es dir passt oder nicht.«
Vivana seufzte innerlich. Bitte keinen Streit – nicht ausgerechnet jetzt. »Tante Livia hat Recht, Paps. Wenn ihm jemand helfen kann, dann sie. Außerdem magst du keine Priester. Und Ärzte magst du auch nicht.«
Tiefe Falten zerfurchten seine Stirn. Sie rechnete mit einer Schimpftirade über »Hokuspokus« und »Manuschunfug« und war umso überraschter, dass er lediglich ein Schnauben von sich gab.
»Wie ihr wollt«, knurrte er und griff nach den Holmen der Trage. »Hauptsache, wir verschwinden endlich von hier.«
Vivana konnte ihr Erstaunen nicht verhehlen. Sollte er seine
Vorurteile den Manusch gegenüber tatsächlich revidiert haben? Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Sie machten sich auf den Weg durch die Dunkelheit und stiegen die Treppe hinauf. Mit jeder Stufe, die sie zurücklegten, spürte Vivana, wie das Böse, das in diesen Gewölben lauerte, schwächer wurde. Es kam ihr vor, als erwache sie aus einem endlosen Albtraum. Sie war dem Einfluss des Bösen so lange ausgesetzt gewesen, dass sie schon gar nicht mehr wusste, wie es sich anfühlte, nicht ständig davon umgeben zu sein.
Als sie nicht mehr weit von den unterirdischen Spelunken und Opiumhöhlen in den Kellern der Alten Arena entfernt waren, blieb Lucien vor einem Durchgang stehen. »Das ist der Raum, den ich meine«, sagte er zu Vivana. »Hier kann Ruac ein paar Tage bleiben, bis wir wissen, was wir mit ihm machen.«
Sie hatten sich darauf geeinigt, den Tatzelwurm vorerst in der Alten Arena zurückzulassen. Er war inzwischen ein halber Lindwurm und würde in der Stadt zu viel Aufsehen erregen – und Aufsehen war das Letzte, was sie jetzt brauchten. So gut Vivana Luciens Argumente nachvollziehen konnte, war ihr doch nicht wohl dabei, Ruac hierzulassen. Seit sie ihn gefunden hatte, war er noch nie längere Zeit von ihr getrennt gewesen. »Du meinst wirklich, das ist nötig?«
»Wir haben doch darüber gesprochen«, erwiderte der Alb. »Wir holen ihn nach, sowie sich die Gelegenheit ergibt.«
»Und wenn ihm etwas zustößt? Wenn jemand ihn findet und ihm etwas antut?«
»Derjenige tut mir jetzt schon leid. Du machst dir zu viele Sorgen. Er kann auf sich aufpassen.«
Vivana gab sich geschlagen. »Komm«, sagte sie zu Ruac und führte ihn in den Raum. Die Gewölbekammer war groß genug, dass er ausreichend Platz darin hatte, selbst wenn er noch weiterwuchs. Von ihren Gefährten sammelte sie die restlichen
Vorräte ein und ließ sie da, damit Ruac für die nächsten Tage genug zu fressen hatte. Zum Abschied drückte sie ihn. »Mach’s gut«, murmelte sie. »Ich komme dich holen, sobald ich kann. Und stell nichts an, hörst du?«
Der Tatzelwurm züngelte, und für einen Augenblick war ihr, als blitze in seinen Augen echte, menschliche Intelligenz auf. Mit einem unguten Gefühl verließ sie die Kammer.
Kurz darauf erreichten sie das Ende der Treppe und zwängten sich durch die Öffnung im Mauerwerk. In den Katakomben der Alten Arena hielt sich kaum jemand auf. Es schien früh am Morgen zu sein. Der Geruch von schalem Ale und kaltem Rauch lag in der Luft. In den Nischen und Tavernen dösten einige Betrunkene und Nachtschwärmer, die keine Notiz von ihnen nahmen. Lucien zog es dennoch vor, sich unauffällig zu machen.
Kühle Morgenluft schlug ihnen entgegen. Ein feiner Nebel füllte die Gassen, der jedoch nicht dicht genug war, um das Licht der Laternen zu trüben. Ein Bierkutscher lud vor einer Schänke Fässer ab; sonst war niemand auf den Beinen.
Vivana bemerkte, dass sich in den Rinnsteinen fauliges Laub angesammelt hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was dieses Detail bedeutete, aber dann traf sie die Erkenntnis mit erschreckender Klarheit: In Bradost herrschte Herbst. Als sie mit ihrem Vater und Lucien zum Tor aufgebrochen war, war noch Hochsommer gewesen.
»Seht euch das an«, sagte sie aufgeregt und scharrte mit dem Fuß im Laub. »Ist euch klar, was das heißt? Wir sind ein paar Wochen im Pandæmonium gewesen. Oder sogar Monate.«
»Aber das kann doch nicht sein«,
Weitere Kostenlose Bücher