Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
entsetzlich. Vivana musste an Siechenhäuser denken, an Folterkammern und Schlachtfelder, an Orte, wo Gewalt, Schmerz und Grauen regierten – und mit einem Mal wurde ihr der ganze Wahnsinn ihres Vorhabens bewusst. Bereits hier war die Präsenz des Bösen derart intensiv, dass sie fürchtete, davon erdrückt zu werden. Wie schrecklich würde es erst im Pandæmonium werden?
Mit belegter Stimme fragte sie ihren Vater: »Glaubst du mir jetzt?«
»Das beweist gar nichts«, erwiderte er und starrte dabei das Tor an, doch seiner Stimme fehlte die Entschiedenheit, mit der er üblicherweise seine Ansichten vorbrachte.
»Ist es offen?«, wandte sich Vivana an Lucien.
»Noch nicht.« Der Alb öffnete seinen Lederrucksack und entnahm ihm drei Gegenstände, die er auf einen Steinblock legte. »Ich habe ein paar Dinge mitgebracht, die uns hoffentlich die Suche erleichtern. Seht her.«
Es handelte sich um ein ledernes Kartenfutteral, eine Kerze und ein Brandeisen, dessen Schaft mit seltsamen Schriftzeichen versehen war.
»Das Futteral enthält eine Karte des Pandæmoniums«, erklärte Lucien. »Sie ist alt und wahrscheinlich ungenau, aber besser als nichts.«
»Wer hat sie gezeichnet?«, fragte Vivana.
»Wir sind nicht die Ersten, die ins Pandæmonium hinabsteigen. Es gab immer wieder Leute, die das versucht haben, und manchmal ist sogar jemand zurückgekehrt. Die Kerze ist verzaubert. Ihr Licht hält die verdammten Seelen fern, denen wir mit Sicherheit begegnen werden. Wir sollten also sparsam damit umgehen. Mit dem Brandeisen können wir Dämonen unseren Willen aufzwingen.« Er verstaute die Gegenstände wieder in seinem Rucksack. »Ich bewahre die Sachen auf, aber ihr solltet ebenfalls darauf achten, dass sie nicht verloren gehen. Unser Leben könnte davon abhängen. Jetzt sollten wir uns euer Gepäck vornehmen.«
Lucien forderte Vivanas Vater auf, den Tragekorb zu öffnen. »Wir müssen vermutlich tagelang zu Fuß gehen, deswegen nehmen wir nur mit, was wir unbedingt brauchen. Alles andere lassen wir hier. Was ist das?«
»Mein altes Zelt«, antwortete Vivana.
Der Alb warf die zusammengerollte Plane und die Zeltstangen weg und begann, einen Großteil des Korbinhalts auszusortieren. Vivana und ihr Vater sahen hilflos zu, wie Kleider und Ausrüstungsstücke zu Boden fielen, bis der Tragekorb bald nur noch halb voll war.
Schließlich leerte Lucien auch ihren Wasserschlauch aus.
»Was machst du da?«, protestierte Vivana. »Wir brauchen das Wasser!«
»Ja, aber keine zwei Gallonen. Das ist viel zu schwer. Eine halbe muss genügen. Unterwegs können wir den Schlauch ja wieder auffüllen.«
»Im Pandæmonium gibt es Wasser?«
»In allen alten Berichten, die ich kenne, ist von Quellen und Wasserstellen die Rede. Auf meiner Karte sind sogar ein paar eingezeichnet. Es sollte kein Problem sein, sie zu finden.«
In diesem Moment gab Ruac ein Zischen von sich, woraufhin sich Lucien zum Tor umwandte. »Es öffnet sich!«
Die Wülste bewegten sich, als würden sich riesige Würmer in der Wand winden und dabei das Mauerwerk aufwerfen. Die Membran wölbte sich nach innen und bildete eine fleischige Mulde. Vivana wurde beinahe übel, so abstoßend war der Anblick.
»Sowie man das Tor berührt, saugt es einen hinein«, sagte Lucien, während er die Riemen seines Rucksacks festzog. »Es dauert eine Weile, bis man auf der anderen Seite ist, also haltet die Luft an. Es ist unvermeidlich, dass ihr mit der bösen Energie in Berührung kommt. Lasst euch auf keinen Fall davon beeinflussen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Vivana.
»Das wirst du schon sehen. Viel Glück.«
»Nein, warte!«, rief sie, doch bevor sie auch nur eine ihrer zahllosen Fragen loswerden konnte, war der Alb bereits die Schutthalde hinaufgeklettert und stieß eine Hand in das Tor. Die Membran zog ihn hinein, und Sekunden später war er verschwunden, als wäre er in der teigigen Masse versunken.
»Ich gehe als Nächste«, sagte Vivana, nachdem sie ihr Entsetzen überwunden hatte.
»Kommt gar nicht infrage«, erwiderte ihr Vater. »Wer weiß,
was dieser Kerl vorhat.« Er schob sie zur Seite und stieg unbeholfen das Geröll hinauf, den Tragekorb auf dem Rücken. »Ich kann nicht glauben, dass ich das tue«, knurrte er und berührte die Membran.
Das Gebilde begann ihn zu verschlucken wie zuvor Lucien. Doch anders als der Alb kämpfte er plötzlich dagegen an, versuchte, sich gegen den Sog der Membran zu wehren, vergeblich. Ein erstickter Schrei drang aus
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