Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
machen.«
Dass Lucien seine Anweisungen derartig präzise und beinahe wie ein Advokat formulierte, geschah nicht aus einer Laune heraus. Er hatte Vivana erklärt, dass Lügner Meister der Hinterlist und des Verrats waren. Wenn seine Befehle nicht lückenlos waren oder einen noch so kleinen Interpretationsspielraum aufwiesen, würde der Dämon versuchen, seine Worte zu verdrehen.
»Viertens, du bleibst immer in meiner Nähe und wirst dich nie mehr als zehn Schritte entfernen. Fünftens, du wirst nicht versuchen, zu fliehen. Und sechstens, du sprichst nur, wenn ich dich dazu aufforderte. Verstanden?«
Der Dämon schwieg. Die Blicke seiner Augen schienen Lucien zu durchbohren.
»Ich habe dir eine Frage gestellt.«
»Verstanden«, schnarrte der Lügner.
»Vor unserer Rache wird dich das nicht bewahren«, ergänzte der Bauch.
»Siebtens«, sagte Lucien, »für jeden Versuch, mich zu täuschen oder meine Befehle zu missachten, steche ich dir ein Auge aus.«
Sie kehrten zu den Felsen zurück. Widerwillig, aber gehorsam folgte ihnen der Dämon. Lucien wollte aufbrechen und bat die anderen, ihre Sachen zu packen.
»Wohin gehen wir?«, erkundigte sich Vivana.
»Zu einer Höhle, die ich unterwegs gesehen habe. Dort befragen wir den Dämon.«
»Warum nicht gleich hier?«
»Zu gefährlich. Ich weiß nicht, wie er sich verhält, wenn andere Dämonen auftauchen.«
»Obwohl du ihm befohlen hast, uns nicht zu verraten?«
Lucien warf einen verstohlenen Blick zu ihrem Gefangenen, der am Rande des Lagers wartete. »Er ist sehr gerissen. Wir machen uns besser auf die eine oder andere Überraschung gefasst.«
Kurz darauf waren sie bereit zum Abmarsch. Als ihr Vater gerade den Tragekorb aufziehen wollte, sagte der Alb: »Nein. Er soll das tragen.« Er gab dem Dämon einen Wink.
»Ich bin nicht dein Lakai«, knurrte der Lügner – besser gesagt, sein Bauch –, und er kämpfte erneut gegen die Macht des Brandzeichens an.
Lucien legte seine Hand auf den Messerknauf. »Auf welches Auge kannst du verzichten?«
Betont langsam kam der Dämon angeschlurft und schulterte den Korb. Vivana fragte sich, wie sie ihn dazu bringen sollten, sie zu Liam zu führen, wenn er bereits bei solchen Kleinigkeiten Probleme machte.
Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Nach einer Viertelmeile erreichten sie die Höhle: eine Öffnung in der Hügelflanke, im Innern geräumig genug für eine kleine Gruppe wie ihre und nach oben offen in Form einer schmalen Spalte, in der sich pfeifend der Wind verfing.
Lucien befahl dem Dämon, sich auf einen Felsen zu setzen.
»Wir suchen einen menschlichen Jungen namens Liam Satander«, begann er. »Sag uns, wo wir ihn finden.«
»Warum sollte ich das wissen?«
»Weil du ein Lügner bist, deswegen.«
»Lügner?« Die beiden Münder des Dämons formten ein höhnisches Grinsen. »So nennt ihr mich also? Ich bin zutiefst
gekränkt. Von meinem neuen Meister hätte ich ein wenig mehr Höflichkeit erwartet.«
»Beantworte meine Frage.«
»Eigentlich war es keine Frage, sondern eine Aufforderung. «
»Weißt du, wo Liam ist, oder nicht?«, erwiderte Lucien barsch.
Der Dämon schien nachzudenken – oder tat nur so. »Liam Satander … Sechzehn oder siebzehn Menschenjahre alt? Blond? Hübsches Kerlchen?«
Vivana war so aufgeregt, dass sie nicht sitzen bleiben konnte. »Das ist er! Wo hast du ihn gesehen? Geht es ihm gut?«
Lucien warf ihr einen warnenden Blick zu, der Halte dich besser zurück zu sagen schien. »Hast du wirklich von ihm gehört?«, wandte er sich wieder an den Dämon. »Oder ist das nur eine von deinen Lügen?«
»Deine ständigen Unterstellungen sind ermüdend. Ja, ich habe von ihm gehört. Wie könnte ich sonst wissen, wie er aussieht? «
»Vielleicht weil du ihn in Vivanas Erinnerungen gesehen hast.«
»Vielleicht habe ich das.« Der Dämon grinste wieder. »Deine Erinnerungen sind übrigens auch recht interessant …«
»Mach dich nicht lächerlich. Du kannst meine Gedanken nicht lesen. Gut. Du hast also von dem Jungen gehört. Wo ist er?«
»Wozu macht ihr euch solche Mühe? Wahrscheinlich ist er längst gefressen worden. Oder ein geflügelter Belial hat ihn gefunden und ihm seine unsterbliche Seele ausgesaugt. Es könnte auch sein, dass man ihm das Herz herausgerissen und – «
»Lass das«, befahl Lucien barsch. »Sag uns, wo Liam angekommen ist.«
»Am Ufer des Schreienden Flusses«, antwortete der Dämon.
»Falsch«, widersprach sein Bauch. »Es war in den
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