Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
sie schließen würde.
»Herrin?«, fragte er.
Ein Geräusch erklang, ein leises Knarren. Jackon ging zu dem Durchgang, aus dem der Laut gekommen war – und prallte vor Schreck zurück. In der Kammer, befestigt an vier Ketten, hing ein Käfig, der leicht hin- und herschwankte. Darin saß ein Wesen, ein unsagbar hässliches Ding mit grauer Haut, verkrüppelten Gliedmaßen und Krallenhänden, mit denen es sich an den Gitterstäben festhielt. Es starrte ihn an – oder hätte ihn angestarrt, wenn es Augen gehabt hätte, was nicht der Fall war. Der klobige Schädel wies lediglich zwei verwachsene Löcher auf.
Es dauerte eine volle Minute, bis sich sein Entsetzen legte. Schließlich wurde ihm klar, dass er dieses Geschöpf schon einmal gesehen hatte, wenn auch nur ganz flüchtig. Es war eines Abends im geheimen Zimmer gewesen, im Beisein von Lady Sarka. Die Lady hatte es »Haustier« genannt.
Das Ding schmatzte. Zögernd ging Jackon näher zum Käfig. Ein kleines Schild, auf dem etwas geschrieben stand, war daran angebracht. Zwar hatte Liam ihm ein paar Buchstaben beigebracht, aber nicht genug, um das Wort zu entziffern.
»Was bist du?«, flüsterte Jackon.
»Sein Name ist Primus.«
Keuchend fuhr er herum und wäre um ein Haar hingefallen. Im Durchgang stand Lady Sarka. Sie lächelte und kam näher.
»Wie schön, dass du aufstehen kannst. Dir geht es besser, nicht wahr?«
Jackon nickte.
»Doktor Addock ist der Beste seines Fachs. Ich habe nie an seinem Erfolg gezweifelt, obwohl es anfangs nicht besonders gut um dich stand. Aber er hat sich ganz vorzüglich um dich gekümmert.«
»Ja, das hat er«, murmelte Jackon. Er konnte nicht anders, als abermals das Wesen im Käfig zu betrachten. Das albtraumhafte Geschöpf übte eine morbide Faszination auf ihn aus.
»Nicht gerade das, was man in einer Bibliothek zu finden erwartet, nicht wahr?«, meinte Lady Sarka.
»Nein.«
»Primus ist meine erste Schöpfung, deswegen bringe ich es nicht fertig, ihn im Keller einzusperren. Leider ist er zu klug für diesen Käfig. Manchmal überkommt ihn die Sehnsucht nach Freiheit, dann bricht er aus und streift nachts durch das Anwesen. Sehr zu Umbras Leidwesen, die ihn wieder einfangen muss.«
»Was ist das für ein Tier?«
»Kein Tier. Ein Homunculus. Ein alchymistisches Wesen.«
Primus gab erneut ein Geräusch von sich, eine Art Brummen, das sich anhörte, als würde er sich beklagen.
»Kann es … kann er sprechen?«
»Ich habe versucht, ihm Stimmbänder zu geben, aber das
ist leider missglückt. Sprechorgane sind ein Merkmal höherer Lebewesen, genau wie Augen. Es ist sehr schwierig, Homunculi damit auszustatten. Deswegen habe ich bei den Spiegelmännern darauf verzichtet.«
Jackon unterdrückte ein Schaudern. »Darf ich mich setzen? «
»Natürlich.« Lady Sarka führte ihn zu einer Ecke der Bibliothek, wo ein Tisch mit zwei Ohrensesseln stand. Jackon nahm Platz. Er gab vor, zu schwach zum Stehen zu sein, was auch stimmte, aber nur zum Teil. In Wahrheit hatte er Primus’ Anblick nicht mehr ertragen.
Lady Sarka setzte sich mit raschelnder Robe in den anderen Sessel.
»Eigentlich bin ich hier, weil ich mit Euch sprechen muss«, begann er. »Ich habe heute Nacht geträumt. Dabei sollte ich doch nicht träumen. Wegen des Mittels, das Ihr mir gegeben habt.«
»Du hast es zum letzten Mal vor fünf Tagen bekommen.«
»Warum bekomme ich es jetzt nicht mehr?«
»Weil es den Schlaf stört. Wegen deiner Verletzung hast du dringend erholsamen Schlaf benötigt. Deshalb hat Doktor Addock darauf bestanden, dass du den Trank nicht mehr nimmst.«
»Und was ist mit Aziel?«
»Ich bin auch nicht glücklich mit Doktor Addocks Entscheidung. Aber er hätte andernfalls nicht für deine Genesung garantieren können.«
Sie legte ihre Hand auf seine – eine jener unerwarteten Berührungen, die sie ihm in der Anfangszeit seiner Ausbildung gelegentlich hatte zuteilwerden lassen, um ihn aufzumuntern oder zu ermutigen. Das letzte Mal, dass sie das getan hatte, lag schon eine Weile zurück, denn nach seinem verhängnisvollen Missgeschick in den Traumlanden war sie so wütend auf ihn
gewesen, dass er schon befürchtet hatte, sie würde ihn hinauswerfen. Davon war jedoch nichts mehr zu spüren, im Gegenteil: Seit dem Kampf und seiner Verwundung war sie so freundlich und fürsorglich zu ihm wie nie zuvor.
»Ich glaube nicht, dass du etwas zu befürchten hast«, fuhr sie fort. »Wenn Aziel dir etwas antun wollte, hätte er das längst
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