Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
die Aufgabe hatten, die Häuser verstorbener Seelen zu beseitigen, und die genau wie die Boten und Sammler verrücktspielten, weswegen sie sich nicht um die Sternwarte kümmerten. Oder es dauerte stets eine Weile, bis ein Seelenhaus verschwand. Liams Tod lag schließlich erst eine gute Woche zurück. Vielleicht musste noch mehr Zeit verstreichen.
Jackon grübelte darüber nach und streifte währenddessen durch die Sternwarte. Er ging von Zimmer zu Zimmer und hoffte, etwas zu finden, das an Liam erinnerte, den Rest eines Traums, aber da war nichts, natürlich nicht. Das Seelenhaus glich einer Hülle, abgestorben und ausgehöhlt wie die Muscheln, die man manchmal am Flussufer fand. Und doch war Jackon, als könnte er manchmal die Gegenwart seines Freundes spüren, einen winzigen Augenblick nur, bevor drückende Leere in die Zimmer zurückkehrte. Machte er sich wieder einmal etwas vor? Er wusste es nicht, und in diesem Moment spielte es keine Rolle für ihn. Denn die Sternwarte war alles, was von Liam geblieben war.
Er blieb viel länger, als er vorgehabt hatte – beinahe zu lange. Er hatte sich so sehr in Erinnerungen verloren, dass er fast seine eigentliche Aufgabe vergaß. Mit einem stummen Gruß verabschiedete er sich von Liam und versprach, wiederzukommen, als er die Sternwarte verließ.
Längst nicht alle Seelenhäuser, die Jackon sah, wiesen Schäden auf – die meisten waren von den Veränderungen gar nicht betroffen. Auch ein Großteil der Boten und Sammler ging nach wie vor seinen Aufgaben nach, sodass Jackon bald ein Seelenhaus fand, in das ein Bote gerade frische Traumsubstanz gebracht hatte. Er öffnete die Tür und warf einen Blick hinein. Es enthielt noch keine Träume. Der silbrige Stoff hatte sich gleichmäßig auf dem Boden verteilt.
Zögernd tauchte er seine Hände hinein und schöpfte etwas davon auf. Die Traumsubstanz fühlte sich kühl und seidig an, als sie durch seine Finger rann. Ganz und gar nicht schleimig oder Ekel erregend. Auch der Geruch war angenehm. Seltsam fremdartig, aber nicht abstoßend.
Er führte die Hände zum Mund und trank die Substanz Schluck für Schluck. Zuerst schmeckte sie nach gar nichts. Aber dann … Jackon war, als würden sich schlagartig alle Geschmacksrichtungen der Welt in seinem Mund entfalten, hunderttausend Aromen, die auf seiner Zunge explodierten. Er taumelte rückwärts, stolperte über die Türschwelle, fiel mit den Armen nach Halt rudernd hin – und wachte auf.
Ächzend fuhr er auf und stellte nach einem Moment der Verwirrung fest, dass er auf der Couch lag. Er betrachtete seine Hände und erwartete, Traumsubstanz würde daran kleben, aber natürlich war das nicht der Fall. Trotzdem schmeckte er sie nach wie vor. Mit zitternden Händen griff er nach der Karaffe und trank, bis der Geschmack verschwunden war.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Lady Sarka.
Jackon stellte die Karaffe zurück, rieb sich die Augen und schüttelte sich. Es dauerte einen Moment, bis er sprechen konnte. »Die Traumsubstanz … Ich habe davon getrunken.«
»Wie hat es sich angefühlt?«
»Schwer zu beschreiben …«
»Du bist davon aufgewacht, richtig?«
Jackon nickte. Normalerweise verblassten die Geschehnisse in den Träumen kurz nach dem Aufwachen. An dieses Erlebnis würde er sich jedoch noch lange erinnern.
»Das macht nichts. Sie bleibt eine Weile in dir. Du kannst beim nächsten Mal versuchen, sie zu benutzen.«
»Irgendwas geschieht mit der Stadt«, sagte er. »Die Seelenhäuser gehen kaputt. Und die Boten und Sammler machen nicht mehr, was sie sollen.«
»Ja. Das war zu erwarten.«
Er blickte sie fragend an.
»Die Alben sind fort«, erklärte Lady Sarka. »Nun gibt es niemanden mehr, der die Träume hütet.«
»Was ist mit Aziel?«
»Er allein ist dafür zu schwach.«
»Heißt das, die Stadt der Seelen zerfällt, und es gibt bald keine Träume mehr?«
»Unsinn. Träume wird es immer geben.«
»Aber wenn die Seelenhäuser Löcher bekommen …«
»Das ist nichts, weswegen du dir Sorgen machen musst«, fiel sie ihm ins Wort. »Du kümmerst dich einzig und allein um deine Ausbildung, hast du verstanden?«
Sie schrie nicht, aber da war ein Ton in ihrer Stimme, den er zu fürchten gelernt hatte. »Ja«, murmelte er.
»Gut. In Zukunft ist es nicht mehr nötig, dass du hierherkommst. Du kannst allein üben, in deinem Zimmer. Du weißt ja jetzt, was du zu tun hast. Oder?«
»Träume erschaffen.«
»Du übst, so oft du kannst. Jede Nacht. Immer dann,
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