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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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gesamte Bevölkerung – die Menschen, die sich widersetzt hatten und geblieben waren, die sich geweigert hatten, an umgrenzte, ihnen zugewiesene Orte zu ziehen, die Ungläubigen und Verseuchten. Sie alle wurden auf einen Streich ausgelöscht, so schnell, wie man einen Ton auf dem Klavier anschlägt. Als wäre alles nur ein Traum gewesen.
    Aber natürlich war es nicht wirklich so. So kann es gar nicht gewesen sein. Die Schließfächer waren noch voll: natürlich. Die Kinder konnten nichts anderes mehr tun als sich zu den Ausgängen durchkämpfen.
    Einige von ihnen – sehr wenige – sind vielleicht entkommen und haben in der Wildnis eine neue Heimat gefunden, aber die meisten von ihnen sind gestorben. Wenigstens in diesem Punkt haben uns unsere Lehrer die Wahrheit gesagt. Ich schließe die Augen, merke, wie ich schwanke.
    »Alles in Ordnung?«, fragt Sarah. Sie legt mir eine schmale, kräftige Hand auf den Rücken. »Wir können auch umkehren.«
    »Mir geht’s gut.« Ich öffne die Augen. Wir sind gerade mal etwa hundert Meter von der Kirche entfernt. Der größte Teil der Hauptstraße liegt immer noch vor uns und ich bin fest entschlossen, mir alles anzusehen.
    Wir gehen jetzt sogar noch langsamer, während Sarah mir die leeren Flächen und zertrümmerten Fundamente zeigt, wo früher Häuser gestanden haben: ein Restaurant (»Eine Pizzeria – da haben wir den Ofen her«); ein Imbiss (»Man kann immer noch das Schild erkennen – siehst du? Da hinten so halb begraben? ›Jedes Sandwich Ihrer Wahl‹«); ein Lebensmittelladen.
    Der Lebensmittelladen scheint Sarah zu betrüben. Hier ist der Boden aufgewühlt, das Gras sogar noch frischer als an den anderen Stellen; offenbar wurde hier jahrelang immer wieder gegraben. »Hier haben wir noch lange Essen gefunden, das hier überall verbuddelt war. Konserven, weißt du, und sogar ein paar verpackte Lebensmittel, die das Feuer überstanden hatten.« Sie seufzt mit wehmütigem Blick. »Jetzt ist allerdings nichts mehr übrig.«
    Wir gehen weiter. Noch ein Restaurant, zu erkennen an einer riesigen Theke aus Metall und zwei Stühlen mit metallenen Lehnen, die nebeneinander auf einem großen Quadrat aus Sonnenlicht stehen; ein Eisenwarenladen (»der hat uns mehrmals das Leben gerettet«). Neben dem Eisenwarenladen ist eine ehemalige Bank. Auch hier verschwindet eine Treppe plötzlich in der Erde, in einem gähnenden Loch im Boden. Gerade tritt der schwarzhaarige Junge – der mit dem unfreundlichen Blick – in die Sonne. Ein Gewehr hängt ihm lässig über der Schulter.
    »Hallo, Tack«, sagt Sarah schüchtern.
    Er wuschelt ihr im Vorübergehen durch die Haare. »Nur für Jungs«, sagt er. »Das weißt du.«
    »Ja, ja.« Sie verdreht die Augen. »Ich führe Lena nur rum. Hier schlafen die Jungs«, erklärt sie mir.
    Also haben selbst die Invaliden die Geschlechtertrennung nicht völlig abgeschafft. Dieses kleine bisschen Normalität – diese Vertrautheit – ist eine Erleichterung.
    Tacks Blick ruht jetzt auf mir und er runzelt die Stirn.
    »Hallo.« Meine Stimme ist nur ein Quieken. Ich versuche vergeblich ein Lächeln. Er ist sehr groß und wie alle in der Wildnis dünn, aber seine Unterarme sind muskulös und sein Kiefer eckig und kräftig. Er hat ebenfalls eine Eingriffsnarbe, ein dreizackiges Mal hinter dem linken Ohr. Ich frage mich, ob es nur nachgemacht ist wie bei Alex oder ob das Heilmittel bei ihm einfach nicht gewirkt hat.
    »Haltet euch von den Gewölben fern.« Das ist an Sarah gerichtet, aber er wendet den Blick nicht von mir ab. Seine Augen sind kalt und abschätzend.
    »Machen wir«, sagt Sarah. Während er davonmarschiert, flüstert sie mir zu: »So ist er zu jedem.«
    »Jetzt verstehe ich, was Raven damit meint, er sei mies drauf.«
    »Mach dir nichts draus. Du darfst es einfach nicht persönlich nehmen.«
    »Okay«, sage ich, aber ehrlich gesagt hat mich die kurze Begegnung erschüttert. Alles hier ist verkehrt, auf den Kopf gestellt: Türrahmen, hinter denen nur Luft ist, unsichtbare Häuser, Wegweiser, Straßen, die immer noch den Schatten der Vergangenheit über alles werfen. Ich kann sie spüren, kann das Geräusch Hunderter rennender Füße hören, kann ehemaliges Lachen hinter dem Gesang der Vögel hören. Dies ist ein Ort, der aus Erinnerungen und Echo besteht.
    Ich bin plötzlich erschöpft. Wir sind erst die Hälfte der alten Straße entlanggegangen, aber mein Entschluss von vorhin, die ganze Gegend abzulaufen, kommt mir jetzt absurd

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