Pandemonium
zu.
»Mist.« Ich setze mich auf und massiere meine Schulter. Auf dem Teller liegen zwei dicke Scheiben Brot und mehrere Streifen luftgetrocknetes Rindfleisch. Sie haben uns außerdem eine Blechflasche mit Wasser gebracht. Nicht schlecht, verglichen mit dem, was ich manchmal in der Wildnis gegessen habe.
»Konntest du was sehen?«, fragt Julian.
Ich schüttele den Kopf.
»Das würde uns wahrscheinlich auch nicht groß weiterhelfen.« Er zögert einen Moment, dann lässt er sich vom Bett gleiten und setzt sich zu mir auf den Boden.
»Informationen helfen immer weiter«, sage ich etwas zu barsch. Noch etwas, das ich von Raven gelernt habe. Julian kann das natürlich nicht verstehen. Leute wie Julian wollen nicht mehr wissen, denken oder wählen; das ist es ja gerade.
Wir strecken beide die Hand nach dem Wasser aus und stoßen über dem Tablett zusammen. Julian zuckt zurück, als ob er sich verbrannt hätte.
»Nur zu«, sage ich.
»Du zuerst«, sagt er.
Ich nehme das Wasser und trinke, wobei ich Julian nicht aus den Augen lasse. Er bricht das Brot in Stücke. Ich kann erkennen, dass er versucht, länger etwas davon zu haben. Er muss am Verhungern sein.
»Du kannst mein Brot haben«, sage ich. Ich weiß nicht genau, warum ich ihm das anbiete. Es ist nicht klug. Ich brauche all meine Kräfte, um hier auszubrechen.
Er starrt mich an. Eigenartigerweise, trotz der anderen Farben an seinem Körper – karamell- und weizenblondes Haar, blaue Augen –, sind seine Wimpern dicht und schwarz. »Bist du sicher?«
»Nimm’s dir«, sage ich und füge beinahe hinzu: Bevor ich es mir anders überlege.
Die zweite Scheibe isst er gierig, mit beiden Händen. Als er fertig ist, reiche ich ihm die Wasserflasche und er zögert, bevor er sie an den Mund setzt.
»Du kannst dich nicht bei mir anstecken, weißt du«, erkläre ich.
»Was?« Er zuckt leicht zusammen, als hätte ich ein langes Schweigen durchbrochen.
»Die Krankheit. Amor deliria nervosa. Du kannst dich damit nicht bei mir anstecken. Ich bin immun.« Vor langer Zeit hat Alex mir einmal dasselbe gesagt. Ich schiebe die Erinnerungen an ihn beiseite, dränge sie weit in die Dunkelheit zurück. »Und übrigens kriegt man sie sowieso nicht davon, dass man aus derselben Flasche trinkt oder Essen teilt. Das ist ein Gerücht.«
»Man kann sie vom Küssen kriegen«, sagt Julian nach einer Pause. Er zögert, bevor er das Wort Küssen ausspricht. Kein Wort, das oft in der Öffentlichkeit benutzt wird.
»Das ist was anderes.«
»Wie auch immer, deshalb mache ich mir auch keine Sorgen«, sagt Julian energisch und trinkt einen großen Schluck Wasser, als wollte er es beweisen.
»Weshalb dann?« Ich nehme mir meinen Streifen luftgetrocknetes Fleisch, lehne mich an die Wand und fange an, darauf herumzukauen.
Er sieht mich nicht an. »Ich habe einfach noch nie so viel Zeit mit …«
»Mädchen verbracht?«
Er schüttelt den Kopf. »Mit niemandem«, sagt er. »Niemandem in meinem Alter.«
Da begegnen sich unsere Blicke und ein Ruck durchfährt mich. Seine Augen haben sich verändert: Das kristallene Gewässer hat sich vertieft und ist zu einem Meer aus wirbelnden Farben geworden – aus Grün-, Gold- und Purpurtönen.
Julian hat offenbar das Gefühl, zu viel gesagt zu haben. Er steht auf, geht zur Tür und kommt zurück. Das ist das erste sichtbare Zeichen von Nervosität, das ich an ihm wahrnehme.
»Was meinst du, warum man uns hier festhält?«, fragt er.
»Lösegeld wahrscheinlich.« Es ist das Einzige, was einen Sinn ergibt.
Julian betastet den Schnitt an seiner Lippe, während er darüber nachdenkt. »Mein Vater wird bezahlen«, sagt er nach einem kurzen Moment. »Ich bin wertvoll für die Bewegung.«
Ich entgegne nichts. In einer Welt ohne Liebe bedeuten Menschen einander genau das: Werte, Vorteile und Verbindlichkeiten, Nummern und Daten. Wir wiegen, messen und beziffern und die Seele wird zu Staub zermahlen.
»Es wird ihm allerdings nicht gefallen, mit Invaliden verhandeln zu müssen«, fügt er hinzu.
»Du weißt doch gar nicht, ob sie dafür verantwortlich sind«, sage ich schnell und bereue es sofort. Selbst hier sollte sich Lena Morgan Jones so verhalten, wie man es von ihr erwartet.
Julian sieht mich mit gerunzelter Stirn an. »Du hast sie doch bei der Demonstration gesehen, oder?« Als ich nicht antworte, fährt er fort. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist das, was passiert ist, sogar gut. Vielleicht verstehen die Leute erst jetzt, worum es der VDFA
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