Pandemonium
rufe mir ins Gedächtnis, dass er und sein Vater der Grund dafür sind, dass die Schmarotzer überhaupt existieren – gezwungen sind zu existieren. Die VDFA und ähnliche Organisationen haben alles Gefühl in der Welt verbannt und verstoßen. Sie haben ihre Fäuste auf einen Geysir gelegt, um ihn vom Ausbruch abzuhalten.
Aber der Druck nimmt langsam zu und irgendwann wird es unweigerlich zum Ausbruch kommen.
»Dann ging Bill hinterher, um nachzusehen, ob mit Tony alles in Ordnung war. Er sagte mir, ich solle mich nicht von der Stelle rühren. Ich wartete dort. Und dann … spürte ich, wie mir jemand von hinten die Kehle zudrückte. Ich bekam keine Luft mehr. Alles verschwamm vor meinen Augen. Dann sah ich, dass sich jemand näherte, konnte aber keine genauen Gesichtszüge erkennen. Er hat mich geschlagen.« Er zeigt auf seine Nase und sein Hemd. »Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, war ich hier. Mit dir.«
Ich habe die Inspektion unserer Zelle abgeschlossen. Aber ich bin voller nervöser Energie und bringe es nicht über mich, mich einfach hinzusetzen. Ich gehe weiter immer hin und her, den Blick zu Boden gerichtet.
»Und du kannst dich an sonst nichts erinnern? Keine anderen Geräusche? Gerüche?«
»Nein.«
»Und es hat niemand gesprochen? Niemand hat was zu dir gesagt?«
Er schweigt einen Moment, bevor er antwortet. »Nein.« Ich weiß nicht genau, ob er lügt oder nicht. Aber ich dränge ihn nicht weiter. Plötzlich überwältigt mich ein Gefühl totaler Erschöpfung. Der Schmerz kehrt mit voller Wucht in meinen Schädel zurück und lässt kleine Farbpunkte hinter meinen Augenlidern explodieren. Ich sinke zu Boden und ziehe die Knie an die Brust.
»Und jetzt?«, fragt Julian. In seiner Stimme ist eine Spur Verzweiflung zu hören. Mir wird klar, dass er doch nicht so ruhig ist. Er hat Angst und kämpft dagegen an.
Ich lehne den Kopf an die Wand und schließe die Augen. »Jetzt warten wir ab.«
Es ist unmöglich zu sagen, wie spät es ist und ob es Nacht ist oder Tag. Die Glühbirne hoch oben an der Decke wirft mattes weißes Licht über alles. Stunden vergehen. Wenigstens kann Julian schweigen. Er liegt auf seiner Pritsche, und auch wenn ich ihn nicht ansehe, spüre ich, wie er mich beobachtet. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es das erste Mal, dass er längere Zeit mit einem Mädchen seines Alters allein ist, und ich spüre, wie seine Blicke über meine Haare, Beine und Arme streichen, als wäre ich ein seltenes Tier im Zoo. Am liebsten würde ich meine Jacke wieder anziehen, um mich zu bedecken, aber das tue ich nicht. Es ist heiß hier.
»Wann hattest du deinen Eingriff?«, fragt er mich irgendwann.
»Im November«, antworte ich automatisch. In meinem Kopf drehe und wende ich immer wieder dieselben Fragen. Warum hat man uns hierhergebracht? Warum hat man uns am Leben gelassen? Julian – das kann ich verstehen. Er ist etwas wert. Sie müssen es auf Lösegeld abgesehen haben.
Aber ich bin nichts wert. Und das macht mich sehr, sehr nervös.
»Hat es wehgetan?«
Ich sehe ihn an und wieder staune ich über die Klarheit seiner Augen. Jetzt haben sie die Farbe eines sauberen Flusses und sind mit violetten und dunkelblauen Schatten durchzogen.
»Nicht allzu sehr«, lüge ich.
»Ich hasse Krankenhäuser«, sagt er und wendet den Blick ab. »Labors, Wissenschaftler, Ärzte. All das.«
Schweigen dehnt sich zwischen uns aus. »Bist du nicht inzwischen irgendwie daran gewöhnt?« Die Frage kann ich mir nicht verkneifen.
Sein linker Mundwinkel zuckt nach oben: ein winziges Lächeln. Er blickt mich von der Seite her an.
»Vermutlich gibt es Dinge, an die man sich nie gewöhnt«, sagt er und ohne ersichtlichen Grund muss ich an Alex denken und spüre einen Kloß im Magen.
»Vermutlich«, erwidere ich.
Später verändert sich etwas, die Stille ist plötzlich anders. Ich habe auf der Pritsche gelegen, um meine Kräfte zu schonen, aber jetzt setze ich mich auf.
»Was ist?«, fragt Julian, aber ich hebe die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Schritte nähern sich auf der anderen Seite der Tür. Dann ein Quietschen, als sich die Scharniere an der kleinen metallenen Katzenklappe öffnen.
Augenblicklich lasse ich mich zu Boden fallen und versuche einen Blick auf unsere Entführer zu erhaschen. Ich lande mit einem harten Schlag auf meiner rechten Schulter. Genau in diesem Augenblick wird klappernd ein Tablett durch die Öffnung geschoben und die Metalltür knallt wieder
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