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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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geht. Sie werden verstehen, warum es so wichtig ist.« Julian spricht mit seiner offiziellen Stimme, als würde er sich an eine große Menschenmenge wenden. Ich frage mich, wie oft man ihm diese Worte, diese Vorstellungen eingebläut hat. Ich frage mich, ob er je zweifelt.
    Plötzlich habe ich genug von ihm und seiner ruhigen Gewissheit über die Welt, als könnte das ganze Leben seziert und ordentlich beschriftet werden wie eine Laborprobe.
    Aber das behalte ich für mich. Lena Morgan Jones behält ihre Maske auf. »Hoffentlich«, sage ich inbrünstig, dann gehe ich zu meiner Pritsche und rolle mich mit dem Gesicht zur Wand zusammen, damit er sieht, dass ich nicht weiter mit ihm reden will. Aus Rache richte ich lautlose Worte an den Beton – alte, verbotene Worte, die Raven mir beigebracht hat, aus einer der alten Religionen.
    Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
    Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
    Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
    Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück …
    Irgendwann schlafe ich ein. Als ich die Augen wieder öffne, unterdrücke ich einen Schrei, denn es ist stockdunkel. Die Glühbirne ist ausgeschaltet worden und wir sind in völlige Finsternis getaucht. Mir ist heiß und übel; ich schiebe die Wolldecke mit den Beinen bis ans Fußende der Pritsche und genieße die kühle Luft auf der Haut.
    »Kannst du nicht schlafen?«
    Julians Stimme erschreckt mich. Er liegt nicht auf seiner Pritsche. Ich kann ihn kaum sehen. Er ist ein großer schwarzer Umriss in der Dunkelheit.
    »Ich habe geschlafen«, sage ich. »Und du?«
    »Nein«, antwortet er. Seine Stimme klingt jetzt sanfter, weniger korrekt – als hätte die Dunkelheit ihre Kanten etwas abgeschliffen. »Es ist verrückt, aber …«
    »Aber was?« Durch meinen Kopf flattern noch immer Traumbilder und kratzen an den Rändern meines Bewusstseins. Ich habe von der Wildnis geträumt. Raven war da und Hunter auch.
    »Ich habe schlechte Träume. Albträume.« Julian sagt das Wort ganz schnell, es ist ihm offenbar peinlich. »Hatte ich schon immer.«
    Den Bruchteil einer Sekunde lang spüre ich einen kleinen Ruck in der Brust, als hätte sich etwas Festes dort gelockert. Ich verdränge das Gefühl. Julian und ich stehen auf verschiedenen Seiten. Zwischen uns kann es keine Sympathie geben.
    »Es heißt, nach dem Eingriff wird es besser«, sagt er beinahe entschuldigend und ich frage mich, ob er wohl das Offensichtliche denkt: Falls ich ihn überlebe .
    Ich erwidere nichts und Julian hustet, dann räuspert er sich.
    »Und du?«, fragt er. »Hast du manchmal Albträume gehabt? Vor deinem Eingriff, meine ich.«
    Ich muss an Hunderttausende Geheilte denken, die traumlos in ihren Ehebetten schlafen, die Köpfe in Nebel gehüllt.
    »Nein«, antworte ich, »nie.« Dann drehe ich mich um, ziehe die Decke wieder über meine Beine und stelle mich schlafend.

damals
    E
s ist keine Zeit, unseren Aufbruch so durchzuführen wie ursprünglich geplant. Wir raffen zusammen, was wir können, und rennen los, während sich die Wildnis hinter uns in prasselndes, qualmendes Feuer verwandelt. Wir halten uns in der Nähe des Flusses, in der Hoffnung, dass uns das Wasser Schutz bietet, falls sich das Feuer weiter ausbreitet.
    Raven trägt Blue auf dem Arm. Sie regt sich nicht und ist bleich vor Schreck. Ich habe Sarah an der Hand, die lautlos weint, in Lus riesige Jacke gewickelt. Sie hat in der Eile ihre eigene nicht gefunden. Lu trägt keine Jacke. Raven und ich geben ihr abwechselnd unsere. Die Kälte ergreift uns, zerquetscht unsere Eingeweide, jagt uns Tränen in die Augen.
    Und hinter uns ist das Inferno.
    Fünfzehn von uns haben die Flucht vom Stützpunkt geschafft; Squirrel und Grandma fehlen. Niemand kann sich erinnern, sie dort noch gesehen zu haben. Eine der Bomben ist ganz in der Nähe des Unterschlupfs tief in die Erde eingeschlagen, hat eine Wand des Krankenzimmers weggesprengt und einen Regen aus Felsbrocken und Erde in den Flur geschleudert. Danach herrschte nur noch Geschrei und Chaos.
    Nachdem die Flugzeuge weg sind, kommen die Hubschrauber. Stundenlang kreisen sie über uns und die Luft wird in Stücke geteilt, vom endlosen Dröhnen zerfetzt. Sie besprühen die Wildnis mit Chemikalien, die uns in der Kehle brennen, in den Augen stechen, den Atem rauben. Wir binden uns T-Shirts und Tücher um Hals und Mund, während wir

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