Pandemonium
»Wir sind da«, und tritt zur Seite, so dass die Taschenlampe eine rostige Metallleiter anstrahlt; und bevor mir noch irgendetwas einfällt, das ich sagen könnte, ist er auf die unterste Sprosse gesprungen und klettert hinauf.
Kurz darauf macht sich der Rattenmann an einer Metallklappe in der Decke zu schaffen. Als er sie aufschiebt, ist das unerwartete Licht so blendend, dass ich kurz aufschreie und mich blinzelnd abwenden muss, während Farbflecken durch mein Sichtfeld tanzen.
Der Rattenmann stemmt sich nach oben und durch das Loch, dann bückt er sich, um mir hinauszuhelfen. Als Letzter folgt Julian.
Wir stehen auf einem großen Bahnsteig unter freiem Himmel. Unter uns sind aufgerissene Schienen, ein Gewirr aus verschlungenem Eisen und Holz. Irgendwo müssen sie in die unterirdischen Tunnel führen. Der Bahnsteig ist mit Vogeldreck überzogen. Überall hocken Tauben – auf den morschen Bänken, in den alten Mülleimern, zwischen den Gleisen. Auf einem sonnengebleichten und sturmgepeitschten Schild stand offenbar irgendwann mal der Name des Bahnhofs; er ist jetzt abgesehen von ein paar Buchstaben – H, O, B, K – unlesbar. Auf den Wänden stehen alte Graffiti: MEIN LEBEN, MEINE ENTSCHEIDUNG, verkündet eins. An anderer Stelle steht: SCHÜTZT AMERIKA. Alte Parolen, alte Zeichen des Kampfes zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen.
»Wo sind wir hier?«, frage ich den Rattenmann. Er kauert neben dem schwarzen Loch, das nach unten führt. Um seine Augen vor der Sonne abzuschirmen, hat er die Kapuze aufgesetzt, und er scheint erpicht darauf zu sein, so schnell wie möglich zurück in die Dunkelheit zu springen. Zum ersten Mal habe ich Gelegenheit, ihn mir richtig anzusehen, und mir fällt auf, dass er viel jünger ist, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Abgesehen von ein paar kleinen Fältchen in den Augenwinkeln ist sein Gesicht glatt. Seine Haut ist so blass, fast wie Milch, und seine Augen sind unscharf und blicklos, nicht an so viel Licht gewöhnt.
»Das ist die Mülldeponie«, sagt er mit ausgestrecktem Arm. Knapp hundert Meter entfernt in der Richtung, in die er zeigt, steht ein hoher Maschendrahtzaun, hinter dem wir einen Riesenberg aus glitzerndem Müll und Metall erkennen können. »Jenseits des Flusses liegt Manhattan.«
»Die Mülldeponie«, wiederhole ich langsam. Natürlich, irgendwo müssen sie ja ihre Vorräte herbekommen. Dafür ist die Deponie ideal: Berge über Berge aus weggeworfenen Lebensmitteln, Vorräten, Drähten und Möbeln. Plötzlich erkenne ich die Stelle wieder. »Ich weiß, wo wir sind«, sage ich. »Ganz in der Nähe gibt es einen Stützpunkt.«
»Einen was?« Julian blinzelt zu mir auf, aber ich bin viel zu aufgeregt. Ich laufe den Bahnsteig entlang, mein Atem steigt als Dampf vor mir auf, und ich strecke die Arme der Sonne entgegen. Die Deponie ist riesig – mehrere Quadratkilometer groß, hat Tack mir erklärt, Manhattan und all seine Partnerstädte laden hier den Müll ab –, aber wir müssen uns an ihrem nördlichen Ende befinden. Vom Tor aus führt eine Schotterstraße durch die Ruinen alter, ausgebombter Gebäude. Auf dem Gelände war früher selbst eine Stadt. Und einen guten Kilometer entfernt gibt es einen Stützpunkt. Dort haben Raven, Tack und ich ungefähr einen Monat lang gelebt, während wir auf unsere Papiere und die letzten Anweisungen der Widerstandsbewegung hinsichtlich unserer Umsiedlung und Wiedereingliederung gewartet haben. Im Stützpunkt gibt es Lebensmittel, Wasser und Kleidung. Außerdem eine Möglichkeit, Kontakt zu Raven und Tack aufzunehmen. Als wir dort gelebt haben, haben wir uns über Funk verständigt, und wenn das zu gefährlich wurde, mit Hilfe von Stoffstücken in verschiedenen Farben, die wir am Fahnenmast vor einer ausgebrannten Schule hochzogen.
»Hier trennen sich unsere Wege«, sagt der Rattenmann. Er ist mit dem Unterleib bereits zurück in das Loch geklettert.
»Danke«, sage ich. Das Wort kommt mir erneut auf alberne Weise unzureichend vor.
Der Rattenmann nickt und will gerade auf die Leiter steigen, als Julian ihn zurückhält.
»Wir wissen gar nicht, wie Sie heißen«, sagt er auch zu ihm.
Die Lippen des Rattenmanns verziehen sich zu einem Lächeln. »Ich habe keinen Namen«, sagt er.
Julian sieht erschrocken aus. »Jeder hat einen Namen«, entgegnet er.
»Nicht mehr«, sagt der Rattenmann mit diesem nervösen Lächeln. »Namen bedeuten nichts mehr. Die Vergangenheit ist vorbei.«
Die Vergangenheit ist vorbei.
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