Pandemonium
bei, dass sich der Knoten aus Angst in meiner Brust löst, der dort festsaß, seit wir unter der Erde sind.
Dann muss ich an Alex denken und mir wird wieder übel. Ich wünschte, ich hätte die Wildnis nie verlassen. Ich wünschte, ich hätte mich nie der Widerstandsbewegung angeschlossen.
»Wie seid ihr hierhergekommen?«, fragt die Frau. Sie gießt etwas aus einem Krug neben mir in eine Plastiktasse und reicht sie mir: eine Kindertasse mit dem verblichenen Muster tänzelnder Hirsche am Rand. Das hier, wie alles andere hier, muss von oben angeschwemmt worden sein – weggeworfen, durch Erdspalten gedrungen wie schmelzender Schnee.
»Wir wurden gefangen genommen.« Julians Stimme wird jetzt fester. »Von den Eindringlingen entführt.« Er zögert und ich weiß, dass er an die VDFA-Abzeichen denkt, die wir gefunden haben, an die Tätowierung, die ich gesehen habe. Er versteht es noch nicht und ich auch nicht; aber ich weiß, dass das nicht einfach das Werk der Schmarotzer war. Sie wurden für einen Auftrag bezahlt oder sollten bezahlt werden. »Wir wissen nicht, warum«, fügt er hinzu.
»Wir versuchen den Weg nach draußen zu finden«, sage ich und da fällt mir etwas ein, was die Frau vorhin gesagt hat, und plötzlich habe ich wieder Hoffnung. »Moment – Sie haben gesagt, Sie hätten Schwierigkeiten, die Zeit einzuschätzen, solange Sie nicht rausgehen, nicht wahr? Das heißt … es gibt einen Weg nach draußen? Einen Weg nach oben?«
»Ich gehe nicht nach oben«, sagt sie. So, wie sie oben sagt, klingt es wie ein Schimpfwort.
»Aber irgendjemand schon«, beharre ich. »Irgendjemand muss doch nach oben.« Sie müssen einen Weg haben, um für Vorräte zu sorgen: Laken, Tassen, Brennstoff und all die Berge aus gebrauchten, zerbrochenen Möbeln, die sich auf dem Bahnsteig türmen.
»Ja«, sagt sie gelassen, »natürlich.«
»Können Sie uns raufbringen?«, frage ich. Meine Kehle ist trocken. Allein beim Gedanken an die Sonne, die Weite und die Oberfläche würde ich am liebsten weinen. Ich weiß nicht, was geschehen wird, sobald wir wieder oben sind, aber ich schiebe den Gedanken beiseite.
»Du bist noch sehr schwach«, sagt sie. »Du musst essen und dich ausruhen.«
»Mir geht’s gut«, erwidere ich. »Ich kann aufstehen.« Ich versuche es und mir wird schwarz vor Augen, so dass ich wieder zu Boden plumpse.
»Lena.« Julian legt mir eine Hand auf den Arm. Etwas flackert in seinen Augen – Vertrau mir, es ist in Ordnung; etwas länger hier unten zu bleiben, bringt uns nicht um – und ich weiß nicht, was geschehen ist oder wie wir angefangen haben, wortlos miteinander zu kommunizieren, oder warum mir das so gefällt.
Er wendet sich an die Frau. »Wir ruhen uns eine Weile aus. Könnte uns dann jemand den Weg an die Oberfläche zeigen?«
Die Frau blickt erneut von Julian zu mir und zurück. Dann nickt sie. »Ihr gehört nicht hierher«, sagt sie und steht auf.
Ich schäme mich plötzlich. All diese Leute leben von Müll und kaputten Sachen, wohnen in der Dunkelheit, atmen Rauch. Und trotzdem haben sie uns geholfen. Sie haben uns geholfen, obwohl sie uns nicht kennen, einfach so. Ich frage mich, ob ich an ihrer Stelle dasselbe getan hätte. Ich bin mir nicht sicher.
Alex hätte es getan, denke ich. Und dann: Julian würde es auch tun.
»Warten Sie!« Julian hält sie zurück. »Wir … wir wissen gar nicht, wie Sie heißen.«
Ein überraschter Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht. Dann lächelt sie wieder ihr Korkenzieherlächeln. »Ich habe meinen Namen hier unten bekommen«, sagt sie. »Man nennt mich Coin.«
Julian runzelt die Stirn, aber ich verstehe es sofort. Es ist ein Invalidenname: Er ist beschreibend, leicht zu behalten, lustig, irgendwie schräg. Coin – Münze –, etwas mit zwei Seiten.
Coin hatte Recht: In den Tunneln lässt sich schlecht die Zeit messen, noch schlechter als in der Zelle. Dort hatten wir wenigstens das elektrische Licht als Anhaltspunkt – tagsüber an, nachts aus. Hier unten sind alle Minuten gleich und kommen einem vor wie Stunden.
Julian und ich essen jeder drei Müsliriegel und etwas von dem luftgetrockneten Rindfleisch aus dem Lager der Schmarotzer. Es ist wie ein Festessen und noch bevor ich fertig bin, bekomme ich Magenkrämpfe. Trotzdem fühle ich mich nach dem Essen und nachdem ich den ganzen Krug Wasser ausgetrunken habe, besser als seit Tagen. Wir dösen ein bisschen – so nah nebeneinander, dass ich Julians Atem in meinen Haaren spüre und
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