Pandemonium
Brust. Er hält mich fest.
»Alles in Ordnung?«, fragt er. Ich bin mir der Nähe unserer Körper und der umhüllenden Wärme seiner Arme mehr als bewusst.
Ich trete einen Schritt zurück, das Herz klopft mir bis zum Hals. »Mir geht’s gut«, sage ich.
Dann geht es erneut in die Dunkelheit. Ich bleibe etwas zurück und der Rattenmann glaubt offenbar, dass ich Angst habe. Er dreht sich um und sagt: »Die Eindringlinge kommen nicht bis hierher. Keine Sorge.« Er hat keine Taschenlampe oder Fackel dabei. Ich frage mich, ob sie das Feuer nur dabeihatten, um die Schmarotzer einzuschüchtern. Der Eingang zum Tunnel ist pechschwarz, aber der Rattenmann kann offenbar problemlos sehen.
»Gehen wir«, sagt Julian und wir folgen dem Rattenmann im schwachen Licht unserer Taschenlampe.
Wir gehen schweigend, nur der Rattenmann bleibt gelegentlich stehen und schnalzt mit der Zunge wie ein Mann, der einen Hund ruft. Einmal bückt er sich, holt Kekskrümel aus seiner Manteltasche und verstreut sie zwischen den Holzbohlen der Gleise auf dem Boden. Aus den Ecken tauchen Ratten auf, schnuppern an seinen Fingern und kämpfen um die Krümel, springen auf seine Handflächen und klettern ihm über Arme und Schultern. Es ist ein furchtbarer Anblick, aber ich kann mich nicht davon losreißen.
»Wie lange leben Sie schon hier?«, fragt Julian, nachdem sich der Rattenmann wieder aufgerichtet hat. Jetzt hören wir überall um uns herum das Geklapper winziger Zähne und scharrende Krallen, und die Taschenlampe beleuchtet dahinhuschende Schatten. Ich habe plötzlich füchterliche Angst, dass die Ratten überall um mich herum sind, sogar an der Decke.
»Weiß nicht«, sagt der Rattenmann. »Ich hab das Zeitgefühl verloren.«
Im Unterschied zu den anderen, die auf dem Bahnsteig wohnen, hat er abgesehen von seinem milchig weißen Auge keine sichtbaren körperlichen Missbildungen. Ich platze unweigerlich heraus. »Warum sind Sie hier?«
Abrupt dreht er sich zu mir um. Einen Moment sagt er gar nichts und wir stehen alle drei einfach in der erdrückenden Dunkelheit. Mein Atem strömt schnell und kratzt mich im Hals.
»Ich wollte nicht geheilt werden«, sagt er schließlich, und die Worte sind so normal – Wörter aus meiner Welt, ein Thema von oben –, dass sich Erleichterung in mir breitmacht. Er ist also nicht verrückt.
»Warum nicht?« Das ist Julian.
Weiteres Schweigen. »Ich war bereits krank«, sagt der Rattenmann, und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, höre ich, dass er lächelt, nur ein kleines bisschen. Ich frage mich, ob Julian wohl genauso überrascht ist wie ich.
Da geht mir auf, dass die Menschen selbst voller Tunnel sind, voller sich krümmender dunkler Gänge und Höhlen; es ist unmöglich, alle Orte in ihnen zu kennen. Unmöglich, sie sich auch nur vorzustellen.
»Was ist passiert?«, hakt Julian nach.
»Sie wurde geheilt«, sagt der Rattenmann kurz angebunden, kehrt uns den Rücken zu und geht weiter. »Und ich habe mich für … das hier entschieden.«
»Moment, Moment.« Julian zieht mich hinter sich her – wir müssen ein Stückchen laufen, um ihn einzuholen. »Ich verstehe nicht. Sie haben sich zusammen infiziert und dann wurde sie geheilt?«
»Ja.«
»Und Sie haben sich stattdessen für das hier entschieden?« Julian schüttelt den Kopf. »Sie müssen doch gesehen haben … ich meine, es hätte Ihnen den Schmerz genommen.« In Julians Worten liegt eine Frage und da wird mir klar, dass er mit sich ringt, immer noch an seinen alten Ansichten festhält, den Vorstellungen, die ihm so lange Trost gespendet haben.
»Ich habe es nicht gesehen.« Der Rattenmann hat seine Schritte beschleunigt. Er muss die Biegungen und Neigungen des Tunnels auswendig kennen. Julian und ich können kaum mithalten. »Ich habe sie danach nie wiedergesehen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagt Julian und einen Augenblick schmerzt mein Herz seinetwegen. Er ist so alt wie ich, aber es gibt so viel, was er nicht weiß.
Der Rattenmann bleibt stehen. Er sieht uns nicht an, aber seine Schultern heben und senken sich: ein unhörbarer Seufzer. »Sie hatten sie mir bereits einmal genommen«, sagt er leise. »Ich wollte sie nicht noch ein weiteres Mal verlieren.«
Am liebsten würde ich ihm die Hand auf die Schulter legen und sagen: Ich verstehe Sie . Aber die Worte kommen mir albern vor. Wir können nie verstehen. Wir können es nur versuchen und uns auf der Suche nach Licht einen Weg durch die Tunnel bahnen.
Plötzlich sagt er:
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