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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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sich unsere Beine beinahe berühren – und wachen beide gleichzeitig auf.
    Coin steht erneut über uns. Sie hat den Wasserkrug aufgefüllt. Julian stößt beim Wachwerden einen kleinen Schrei aus. Dann setzt er sich schnell verlegen auf. Er fährt sich mit den Händen durchs Haar, so dass es wild in alle Richtungen absteht. Ich verspüre plötzlich den überwältigenden Drang, die Hand auszustrecken und es glatt zu streichen.
    »Kannst du laufen?«, fragt mich Coin. Ich nicke. »Dann lasse ich euch von jemandem an die Oberfläche bringen.« Sie spricht Oberfläche erneut so aus, als wäre es ein Schimpfwort oder eine Verwünschung.
    »Vielen Dank.« Die Worte kommen mir dürr und ungenügend vor. »Sie hätten nicht … ich meine, wir wissen es wirklich zu schätzen. Wir wären wahrscheinlich tot, wenn Sie und … Ihre Freunde nicht gewesen wären.« Beinahe hätte ich ›Ihre Leute‹ gesagt, aber ich halte mich im letzten Moment zurück. Ich weiß noch, wie gekränkt ich war, als Julian das Gleiche gesagt hat.
    Sie sieht mich einen Moment an, ohne zu lächeln, und ich frage mich, ob ich sie irgendwie verärgert habe. »Wie gesagt, ihr gehört nicht hierher«, sagt sie. Und dann, mit höher werdender, immer lauterer Stimme: »Es gibt einen Platz für alles und jeden, wisst ihr. Das ist der Fehler, den sie da oben begehen. Sie glauben, dass es nur für bestimmte Leute einen Platz gibt. Dass nur bestimmte Leute dazugehören. Der Rest ist Abfall. Aber selbst Abfall braucht einen Platz. Sonst verstopft, verklumpt, verrottet und gärt er.«
    Ein leichtes Zittern durchläuft ihren Körper; ihre rechte Hand umklammert verkrampft die Falten ihres schmutzigen Kleids.
    »Ich hole jemanden, der euch führt«, sagt sie dann abrupt, als schämte sie sich für ihren Ausbruch, und wendet sich ab.
    Der Rattenmann kommt uns holen, und obwohl er diesmal allein ist, steigen Schwindel und Übelkeit in mir auf. Die Ratten sind immerhin wieder in ihren Löchern und Verstecken.
    »Coin hat gesagt, ihr wollt nach oben«, sagt er – das ist der längste Satz, den ich bisher von ihm gehört habe. Julian und ich sind bereits aufgestanden. Julian hat den Rucksack genommen, und obwohl ich ihm gesagt habe, ich könne mich problemlos auf den Beinen halten, besteht er darauf, eine Hand auf meinen Arm zu legen. Nur vorsichtshalber , hat er gesagt, und ich muss daran denken, wie anders er ist als der Junge, den ich im Javits Center auf dem Podium gesehen habe, das coole schwebende Bild auf der Leinwand – unvorstellbar, dass das ein und dieselbe Person sein soll. Ich frage mich, ob jener Junge der echte Julian ist oder dieser Junge hier oder ob sich das überhaupt genau bestimmen lässt.
    Dann geht es mir auf: Ich bin mir noch nicht mal mehr sicher, welches die echte Lena ist.
    »Wir sind so weit«, sagt Julian.
    Wir bahnen uns einen Weg um die Berge aus Abfall und die behelfsmäßigen Unterkünfte herum, die auf dem Bahnsteig verteilt sind. Wo wir langgehen, werden wir beobachtet. Gestalten kauern in den Schatten. Man hat sie gezwungen, hier unten zu leben, genau wie andere in die Wildnis gezwungen wurden: einer geordneten und gleichförmigen Gesellschaft zuliebe.
    Damit eine Gesellschaft gesund sein kann, darf kein einziges ihrer Mitglieder krank sein. Die Philosophie der VDFA reicht weiter – viel weiter –, als ich dachte. Nicht nur die Ungeheilten sind gefährlich. Sondern auch die Anderen, die Missgebildeten, die Unnormalen. Sie müssen ebenfalls ausgerottet werden. Ich frage mich, ob Julian das bewusst ist oder ob er es schon immer gewusst hat.
    Unregelmäßigkeit muss reguliert werden; Schmutz muss beseitigt werden; die Gesetze der Physik lehren uns, dass alle Organismen unweigerlich zum Chaos neigen, daher muss das Chaos ständig zurückgedrängt werden. Die Regeln der Säuberung stehen sogar im Buch Psst .
    Am Ende des Bahnsteigs springt der Rattenmann hinunter auf die Gleise. Er geht ganz normal. Wenn er beim Handgemenge mit den Schmarotzern verletzt wurde, ist er inzwischen ebenfalls versorgt worden. Julian folgt ihm und hilft dann mir hinunter, indem er mir die Hände um die Taille legt, als ich mich schwerfällig vom Bahnsteig gleiten lasse. Obwohl es mir besser geht, kann ich mich immer noch nicht besonders gut bewegen. Ich habe zu lange nicht genug gegessen und getrunken, und mein Schädel pocht immer noch. Ich knicke um, als ich auf dem Boden aufkomme, und stolpere kurz gegen Julian, stoße mit dem Kinn gegen seine

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