Pangea - Der achte Tag
Mutter denken. Sie wollte nicht weinen. Nicht jetzt. Sie würde später weinen, irgendwann. Jetzt war keine Zeit dazu. Die Zhan Shi würden sie längst suchen und bald auch finden, wenn sie noch länger zögerte.
Liya erhob sich und suchte ringsum den Horizont ab. Nichts zu erkennen. Keine Reiterhorden, keine verräterische Staubfahne. Nichts. Noch nicht.
Die Kalmare lagerten ruhig um den flachen Stein herum, dösten und schienen ganz mit ihren Träumen beschäftigt zu sein. Liya war sicher, dass die Kalmare die Antworten auf alle Fragen träumten. Die Kalmare waren im Besitz der Weltweisheit, aber sie schienen sich nicht sonderlich dafür zu interessieren. Und man konnte sie nicht fragen.
Wieso eigentlich nicht?
Der Gedanke kam ihr ganz plötzlich und kam ihr im gleichen Moment unerhört und dumm vor. Irgendjemand würde wohl schon mal versucht haben, die Kalmare zu fragen.
Irgendjemand. Irgendwann. Aber nicht sie.
Liya hatte immer ein besonderes Verhältnis zu Kalmaren gehabt. Sie wusste, was sie fühlten, aber wirklich reden konnte sie mit ihnen nicht. Niemand konnte das.
Aber man konnte es trotzdem versuchen.
Liya rutschte von dem flachen Stein hinab in den Sand und suchte den Leitbullen der Kalmare, auf dem sie die Festung der Zhan Shi verlassen hatte. Der große Kopffüßler schien sie bereits zu erwarten, denn seine Tentakel scharrten unruhig im Sand und seine Hautfarbe wechselte in Wellen von
Braun zu Rosa. Liya dachte an Biao, als sie den Leitbullen tätschelte. Sie vermisste Biao, sie vermisste ihn sehr.
Welche Richtung?
Die wichtigste aller Fragen in der Wüste. Ein Gebet, das man immer und immer wieder wiederholen musste, bis es irgendwann seine ganze Magie entfaltete.
Welche Richtung? Welche Richtung? Welche Richtung?
Sie versuchte, an nichts anderes zu denken, aber natürlich gelang es ihr nicht. Im Gegenteil dachte sie an alles Mögliche gleichzeitig, ein Sturm von Gedanken und Gefühlen überwältigte sie, als sie so bei dem Kalmar stand und sich mit ihrem ganzen Körper an ihn presste. Und schließlich, nach unendlich langer Zeit, kamen die Tränen. Ein wimmernder Schrei löste sich irgendwo tief in Liya, und mit einem qualvollen Stöhnen sackte sie in die Knie, wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, bis sie zitternd und keuchend um Atem rang.
Welche Richtung?
Die Verzweiflung und Ratlosigkeit waren kaum auszuhalten. Doch die große Flut von Gedanken verebbte langsam und nur ein einziger blieb übrig. Ein einzelnes Wort, ganz einfach und ganz klar.
Zurück.
Sie richtete sich mühsam auf, wischte sich den Sand aus dem Gesicht und atmete die erste kühle Nachtluft. Bald würde es kalt werden, aber das war nicht mehr wichtig. Liya kannte jetzt die Richtung. Sie stand auf und tätschelte den Leitbullen.
»Danke, Dicker«, sagte sie laut. »Dann wollen wir mal.«
Der Kalmar öffnete träge ein Auge und streckte Liya einen Tentakel entgegen, sodass sie aufsteigen konnte. Als Liya seinen Kopf bestieg, meinte sie so etwas wie einen erleichterten Seufzer des Bullen zu hören.
Das Lager der Zhan Shi befand sich immer noch im Alarmzustand wegen der entführten Kalmare. In alle Richtungen wurden Patrouillen ausgesandt, die sie aufspüren sollten. Im Morgengrauen des nächsten Tages bot sich einer dieser Patrouillen ein majestätischer Anblick. Im goldenen Licht der ersten Sonnenstrahlen näherte sich ihnen eine Karawane von fünfzig Kalmaren. Und auf dem Leitbullen ritt ein fünfzehnjähriges Mädchen, den Kopf wie eine Königin erhoben. Die Karawane hielt genau auf sie zu und machte keinerlei Anstalten anzuhalten. Kein Laut, nur das vielfache Scharren der Tentakel im Sand.
Die rund zwanzig Zhan Shi des Suchtrupps hielten das Ganze zunächst für eine Fata Morgana. Eine Kalmarherde ohne Reiter zu führen galt als schier unmöglich. Kalmare waren eigensinnig und unberechenbar. Guten Zuchtmeistern gelang es, zwei bis drei Tiere gleichzeitig zu befehlen. Erfahrene Großmeister konnten bestenfalls ein halbes Dutzend Kalmare dirigieren, nachdem sie sehr lange Zeit mit ihnen gearbeitet hatten und genügend Sensibilität für ihre Stimmungen aufbrachten. Aber fünfzig gleichzeitig war in der Geschichte der Ori noch nie vorgekommen.
»Möge euch ein langes Leben beschert sein!«, rief Liya den Zhan Shi im alten, traditionellen Mandarin zu.
Die Zhan Shi erwiderten den Gruß und ließen die Karawane an sich vorbeiziehen. Niemandem fiel es ein, sie aufzuhalten. Sie drehten einfach um und folgten den
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