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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
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auf.
    Eine kühle Dunkelheit empfing sie im Palast. Von irgendwo umwehte sie ein frischer Luftzug. Liya hielt nach wenigen Schritten an und blickte sich um. Zhe war nirgendwo mehr zu sehen. Auch das Schlurfen seiner Sandalen war verhallt.
    Liya war allein. Sie befand sich im Eingangsbereich des Palastes, eine ovale Halle, von der verschiedene Gänge wegführten. Hinter ihr lag das Tor, durch das aber nur noch wenig Licht sickerte. Liya kam sich vor wie in einer anderen Welt, das Draußen existierte nicht mehr. Die Wände waren mit einfachem Sandstein verkleidet, dessen warme Farbe etwas Freundliches und Bescheidenes ausstrahlte. Liya wusste, sie musste den Gon Shi finden, und zwar schnell. Soviel hatte sie immerhin verstanden, dass dies die Prüfung war, die er ihr durch den Einspruch des Kalmars zugestanden hatte. Die Aufgabe, so seltsam und albern sie klang, lautete: Finde mich!
    Liya versuchte, sich zu konzentrieren, und hielt den Atem an. Da! Ein ferner Laut aus einem der Gänge. Liya zögerte keinen weiteren Augenblick und rannte los.
    Der Gang hatte keine Türen und mündete nach einer sanften Biegung in eine weitere Halle, von der wieder Gänge abzweigten. Liya blieb vor einem großen, kreisrunden Bodenmosaik aus bunt schimmerndem Perlmutt stehen, dem Zeichen der Zhan Shi. Aus einem winzigen Oberlicht in der Decke fiel ein Lichtstrahl direkt auf das Zeichen und ließ es warm und golden aufleuchten, und Liya wusste plötzlich, dass sie hier richtig war.
    Dass sie hier hingehörte.
    Geradeaus führte eine steinerne Treppe hinauf in das obere Stockwerk, aber die beachtete Liya nicht einmal. Ohne weiter darüber nachzudenken, warum sie so sicher war, stürmte sie in den Gang rechts von ihr. Ein langer Gang. Links und rechts lagen Schlafzellen, aufgezogen wie Perlen an einer Kette. Liya rannte, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Am Ende des Ganges stürmte sie eine Steintreppe hinauf. Dann weiter von Gang zu Gang. Sie stolperte und schürfte sich ein Knie blutig, als sie hinfiel. Aber sie beachtete den Schmerz nicht, rappelte sich sofort wieder auf und rannte weiter. Eine Treppe abwärts. Ein neuer Gang. Eine Halle. Und dann wieder abwärts, immer tiefer, hinunter in die tiefsten Keller des Palastes, dorthin, wo kein Sonnenstrahl mehr eindrang. Licht kam nur noch von vereinzelten Öllampen, die gegen die Dunkelheit anfunzelten. An den flackernden Rußfahnen erkannte Liya jedoch, dass die Gänge gut belüftet waren. Liya hatte nicht gewusst, dass der Palast so groß war. Wie eine riesige Wurzel erstreckte er sich tief unter der Wüste, ein gewaltiges Labyrinth, von einem wahnsinnigen Baumeister erbaut, denn nichts schien hier irgendeinen Sinn zu ergeben. Manche Gänge endeten im Nichts, viele führten im Kreis, die meisten hatten nicht einmal Kammern, und immer wieder mündeten sie in große, ausgeschmückte Hallen, in denen manchmal flache behauene Steine standen mit brennenden Kerzen darauf. Sie begegnete niemandem. Liya konzentrierte sich ganz auf das Bild des kleinen, alten Mannes, das ferne Geräusch seiner Sandalen. Immer mehr fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt, eine Welt mit neuen Regeln und Naturgesetzen, beherrscht von etwas Großem, Unheimlichem, fernab von allem, unendlich fern.
    Doch je tiefer Liya in diese Welt eindrang, je schneller sie rannte, desto deutlicher verstand sie auch, dass hinter diesem scheinbaren Chaos von Gängen, Hallen, Treppen und Kammern eine Ordnung stand, die sich nur erschloss, wenn man über einen einzigartigen Orientierungssinn verfügte. Als Liya eine kurze Verschnaufpause in einer der Hallen einlegte und ein weiteres Perlmuttmosaik zu ihren Füßen erblickte, begriff sie plötzlich das System des Labyrinths, durch das sie nun schon seit über einer Stunde rannte und stolperte, und gleichzeitig auch, wo sie den Gon Shi finden würde: genau im Zentrum des Zeichens der Zhan Shi, das sich überall um sie herum in allen Ornamenten wiederholte.
    Liya schloss die Augen und atmete ruhig und gleichmäßig. Allmählich entstand ein Bild in ihrem Kopf, der gesamte Weg durchs Labyrinth, so klar und deutlich wie eine Landkarte.
    »Also gut!«, sagte sie laut zu sich selbst und öffnete die Augen wieder. Sie wusste nun, wohin sie gehen musste, sie hätte ihr Ziel auch ohne die rußigen Öllampen an den Wänden gefunden. Nach wenigen Minuten erreichte sie das Herz des unterirdischen Labyrinths, eine hoch gewölbte, kreisrunde Halle mit vier Zugängen, exakt ausgerichtet an der

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