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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
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Gefühl. Sie schämte sich für ihre Wut und den Wunsch, es ihm heimzuzahlen, denn das schien ihr nun unangemessen für eine Zhan Shi. Liya nahm sich vor, ihre Gefühle zukünftig noch besser zu kontrollieren. Und wusste gleichzeitig, dass ihr das nur selten gelingen würde. Mit viel Übung und Konzentration würde sie ihre Gefühle im Kampf ausblenden können - aber nicht für immer. Vielleicht aber konnte sie zumindest weniger wütend auf ihren Vater sein, dachte sie. Und vielleicht könnte sie etwas weniger Herzklopfen bei dem Gedanken an Li haben. Vielleicht.
    Um sich abzulenken, dachte Liya wieder an ihre Mutter. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie ihr während des gesamten Kampfes zur Seite gestanden hatte. Ihre Mutter, die unbemerkt von allen anderen einen qualvollen Tod gestorben war, unendlich qualvoller als alle Schmerzen, die Liya nun ertragen musste. Es gab Salben und Kräuter gegen die Schürfwunden und Prellungen. Aber nicht gegen den Schmerz der Schuld. Liya lag auf dem Bett in einer Zelle irgendwo in den unterirdischen Gewölben des Zhan-Shi-Palastes und fühlte sich unendlich allein. Und in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass es möglicherweise zu ihrer Bestimmung gehörte, allein zu sein. Für immer.
    »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden!«
    Liya schreckte hoch und riss die Augen auf. Am Fußende der Pritsche saß ihre Mutter und blickte sie streng und gleichzeitig milde an. Sie trug den Umhang, in dem Liya sie zuletzt gesehen hatte, und sah genauso schön und königlich aus wie in der Nacht vor ihrem Tod. Sie sah noch lebendiger aus als am Vortag in der Grube.
    »Mama!«, entfuhr es Liya. »Was ...?«
    »Schschsch!« Ihre Mutter legte einen Finger auf die Lippen und berührte mit der anderen Hand Liyas Fuß. Ihre Hand war warm und weich. »Natürlich bin ich tot, daran ist nichts zu ändern. Aber mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Der Tod ist nichts, wovor du dich fürchten musst.«
    »Aber wie ist es möglich, dass ...«
    »Schschsch! Das kann ich dir nicht beantworten. Aber du sollst wissen, dass du keine Schuld hast. Niemand hat Schuld, noch nicht einmal die Feuerspucker. Es gibt keine Schuld. Es gibt nur Schicksal.«
    »Das verstehe ich nicht, Mama.«
    »Das brauchst du auch nicht. Du musst es nur glauben. Aber vor allem musst du aufhören, dich selbst zu bemitleiden. Was auch immer du tust, denk nicht daran, was andere von dir erwarten. Halte dich immer nur an dein Gefühl. Dein Gefühl ist dein Kompass. Deine Gefühle sind das Einzige, dem du vertrauen kannst.«
    »Aber ich habe oft schlechte und falsche Gefühle. Ich hasse Papa.«
    »Nein, das tust du nicht. Es gibt keine schlechten oder falschen Gefühle. Es gibt nur falsche Handlungen. Du kannst ruhig wütend auf deinen Vater sein, wichtig ist, was du tust.«
    »Und was soll ich tun, Mama? Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!«
    »Doch, das weißt du. Du musst es nur noch glauben.«
    Die Wärme der Hand, die immer noch ihren Fuß hielt, übertrug sich auf Liyas ganzen Körper und vertrieb allen Schmerz und alle Einsamkeit. Liya rollte sich zusammen, legte den Kopf in den Schoß ihrer Mutter, wie sie es sich vorgestellt hatte, und schloss die Augen. Ihre Mutter berührte ihre Stirn und pustete ihr sanft in die Haare, wie sie es früher getan hatte.
    »... Mama?«
    »Schschsch!«
    »Danke, Mama.«
    Als Liya erwachte, war sie wieder allein. Sie lag eingerollt auf der Pritsche, aber ihre Mutter war verschwunden wie ein freundlicher Spuk. Dennoch fühlte Liya sich nicht einsam. Sie wusste zwar weder, wie lange sie geschlafen hatte, noch, ob es Tag oder Nacht war, aber ihr Körper war schmerzfrei, und das war Beweis genug, dass ihre Mutter wirklich bei ihr gewesen war. Woher auch immer sie gekommen war.
    Ein gutes Gefühl. Und dennoch war da etwas Beunruhigendes. Liya setzte sich auf und brauchte eine Weile, bis sie sich wieder an ihren letzten Traum erinnerte. Sie merkte, wie sie plötzlich errötete, als es ihr wieder einfiel. Sie hatte von Li geträumt.
    Li, der sie geküsst und da und dort gestreichelt hatte. Ein schöner, aufregender Traum. Was sie immer noch verstörte, musste sie also danach geträumt haben. Liya verscheuchte das Bild des nackten Li aus ihrem Kopf, rieb sich heftig durchs Gesicht und versuchte, sich auf den letzten Traum zu konzentrieren.
    Ein Tal.
    Sie hatte von einem Tal geträumt. Einem Tal inmitten hoher Berge. In der Ferne im Dunst konnte sie eine Gruppe sonderbar geformter Gipfel erkennen, die

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