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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
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während des Trainings. Rede nicht während des Kampfes. Trainiere täglich die Basisübungen. Habe keine Furcht, dich dem Gegner zu nähern. Je näher du an ihm dran bist, desto mehr kannst du lernen. Lass den Körper immer entspannt. Entspannung vertreibt die Angst. Schlafe immer mit einem offenen und einem geschlossenen Auge. Schlaf und iss nicht zu viel. Beides macht träge. Hast du das verstanden?«
    »Ich kenne die Regeln, seit ich zwölf bin.«
    »Dann wird es Zeit, dass du sie auch befolgst.«
    Die Sonne kletterte höher und es wurde erst warm und dann heiß. Der Trainingsplatz füllte sich mit jungen Zhan Shi, die zunächst Aufwärmübungen machten und danach paarweise Kampfpositionen, Schläge und Tritte übten.
    Für Liya liefen die nächsten Übungen nicht viel besser als die ersten. Diesmal machte der jüngere Zhan Shi mit und drei weitere Zhan Shi, die Li mit ein paar knappen Worten dazuholte. Offenbar war sein Rang höher, als Liya vermutet hatte, trotz seines Alters.
    Diesmal verband er Liya die Augen mit der Binde, die noch etwas nach ihm roch. Gut roch. Diesmal gab er Liya einen der drei Stöcke. Diesmal wurde es richtig schmerzhaft.
    Liya ahnte es bereits, als sie sah, wie die beiden ihre Stöcke packten.
    »Spüre, woher der Angriff kommt!«, hörte sie Lis Stimme hinter sich, und im gleichen Moment traf sie schon der erste Stockschlag von der Seite. Und sofort der nächste von hinten. Und der nächste von vorn. Die Schläge prasselten nur so auf sie nieder. Liya versuchte, die Hiebe mit ihrem Stock abzuwehren, wirbelte ihm Kreis herum, aber dadurch wurde ihr nur schwindelig und sie fiel hin.
    Die Schläge hörten aber deswegen noch lange nicht auf.
    »Bleib nicht liegen!«, rief Li von irgendwo. »Wenn du liegen bleibst, bist du tot!«
    Ich bin doch schon tot. Ich. Bin. Schon. Tot.
    Liya schützte wenigstens den Kopf, so gut es ging. Sie wand sich, rollte weg, sprang im Zickzack, bewegte sich so flink wie ein Sandschläfer. Aber das war auf Dauer keine Lösung, es erschöpfte sie nur rascher. Sie musste zurückschlagen und die Angreifer entwaffnen. Aber ihr waren die Augen verbunden. Sie war blind und nirgendwo gab es noch Schonung. Wenn das so weiterging, würden sie ihr sämtliche Glieder brechen. Wenn nicht schlimmer.
    »Was hat das mit Ausbildung zu tun?«, schrie Liya unter dem Hagel der Schläge. »Ist das die ganze Kampfkunst der Zhan Shi?«
    »Nein!«, entgegnete Li und schlug erneut zu. »Das ist die Kampfkunst des Sariel!«
    »Der Sariel ist allein!«
    »Aber er ist schnell wie sieben«, behauptete Li. »Zhe hat gesagt, dass du besondere Fähigkeiten hast. Du solltest sie endlich einsetzen.«
    Also darum ging es, dachte Liya. Das Ganze war wieder nur eine Art Disziplinierungsmaßnahme. Es ging nicht um Ausbildung, sondern um Erniedrigung. Sie wollten ihren Willen brechen. Er war ja schon fast gebrochen.
    »Aufhören!«, wimmerte Liya. »Bitte hört auf!«
    »Steh auf!«, schrie Li. »Setz deine Fähigkeiten ein!«
    »Bitte aufhören.« Ganz leise nur noch.
    Liya dachte an ihre Mutter und wünschte sich, bei ihr zu sein, das Gesicht in ihren Schoß zu legen wie früher, den Stoff ihres Kleides an der Wange zu spüren und ihren ewigen, vertrauten Geruch einzuatmen, der alles weghauchen konnte, alle Verzweiflung, alle bösen Nachtgedanken, allen Schmerz. Aber ihre Mutter war tot, unerreichbar, vielleicht in irgendeiner anderen Welt, und Liya war in dieser Welt und lebte. Noch.
    Die Schläge hatten aufgehört. Liya lag gekrümmt auf dem Boden, den Kopf in den Händen.
    »Pause«, hörte sie Li trocken sagen und hasste ihn dafür.
    Liya stöhnte. Jeder einzelne Muskel, jeder Knochen im Leib tat ihr weh. Sie musste inzwischen am ganzen Körper grün und blau sein. Aber Liya war ein hartes und entbehrungsreiches Leben gewohnt und hatte oft genug einen unbeabsichtigten Tentakelschlag einstecken müssen.
    »Nein«, erklärte sie trotzig und erhob sich ächzend. Sie trug immer noch die Augenbinde und taumelte vor Schwindel, als sie sich aufrichtete. Die Beine waren so taub geprügelt, dass sie sie kaum noch trugen. Aber Liya verdrängte den Gedanken an den Schmerz und die Taubheit und die Wut. Was immer Zhe und Li mit »Fähigkeiten« meinten, sie würden sich nur mit Ruhe und Disziplin einstellen.
    Ruhe und Disziplin. So wie in dem unterirdischen Labyrinth. Mit einem Mal war alles da gewesen, hatte sich der gesamte Grundriss des unterirdischen Labyrinths wie eine Landkarte vor ihr ausgebreitet.

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