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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
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Sie hatte im Dunkeln sehen können. Ächzend drückte Liya das Kreuz durch, nahm erneut die erste Kampfposition ein und hob leicht den Kopf, als wenn sie einem fernen Geräusch lausche. Dabei horchte sie nicht in die Ferne, sondern in sich hinein. Sie wusste, dass sie es konnte. Sie musste einfach spüren, wo die Zhan Shi standen und aus welcher Richtung sie zuschlugen.
    »Bereit?«, rief Li von der Seite.
    Liya zögerte noch einen Moment, hörte auf zu atmen und spürte, wie die Welt um sie herum verschwand und durch etwas anderes ersetzt wurde. Eine neue Klarheit. Die Welt war nur noch eine einzige endlose Ebene im Nichts, und in ihrer Mitte stand Liya, umringt von fünf Zhan Shi. Sie konnte ihr Atmen hören, das Scharren ihrer Füße, spürte die Nervosität und die Blicke, die sie Li zuwarfen, als sie auf sein Kommando warteten, um ihr den Rest zu geben. Aber mehr noch als die kleinen verräterischen Geräusche konnte Liya die Gefühle der fünf jungen Krieger spüren. Und in diesem Moment verstand sie, was ihre eigentliche Gabe war. Sie konnte Gefühle sehen. Sie konnte es bei Kalmaren und sie konnte es offensichtlich auch bei Menschen. Und Gefühle hatten Farben. Liya spürte die Nervosität der Jungen als blassbläulichen Dunst, der sie umgab. Hinter ihr leuchtete einer der Jungs hellorange auf vor lauter Selbstzufriedenheit. Der Kleine daneben glimmte grünlich vor Mitleid. Liya erkannte in ihm Lis Freund. Der da vor ihr pulsierte leicht rosa vor Neid. Und der daneben flackerte in hellvioletter Wut auf. Der Einzige, den Liya bloß schemenhaft erkannte, war Li. Von ihm ging nur das fahle Türkis des Hochmuts aus. Gut verborgen, aber eben nicht ganz unterdrückt.
    Liya wusste jetzt, wo ihre Angreifer standen und wie sie sich bewegten.
    »Bereit!«, erklärte sie und fasste ihren Stock fester.
    Augenblicklich kam der erste Angriff. Eine leichte Veränderung im türkisfarbenen Dunst. Natürlich Li, der seinen Stock einmal durch die Luft schwang und ihn dann in Hüfthöhe auf sie zusausen ließ. Liya brauchte gar nicht viel zu tun. Eine kleine Drehung nur, und sie blockte den Schlag mit ihrem Stock ab. Es gab ein trockenes »Klack«, als die beiden Stöcke sich trafen, aber dieses kleine Geräusch jagte ihr ein heißes Triumphgefühl den Rücken hinauf.
    Sie unterdrückte es sofort, denn genau wie Wut oder Verzweiflung überlagerten auch starke Glücksgefühle ihre Wahrnehmung und machten sie wieder blind.
    Keine Sekunde zu spät. Der nächste Schlag kam von hinten von der orangefarbenen Selbstzufriedenheit. Liya konnte den Stock förmlich durch die Luft zischen sehen. Sie riss ihren Stock in Kopfhöhe hoch und wirbelte herum. >Klack!< Ein Schrei der Überraschung. Das Orange wurde etwas blasser.
    Als Nächstes schlug der Neid zu. Liya duckte sich und hielt ihren Stock ausgestreckt vor sich. »Klack!« Ein harter Schlag, der ihr fast den Stock aus der Hand riss. Liya nahm sich vor, aufzupassen. Sie war jetzt sehr ruhig. Den Schmerz und die Taubheit spürte sie kaum noch, sie bewegte sich leicht und gewandt.
    Der Takt der Schläge erhöhte sich, sie kamen jetzt wieder von allen Seiten gleichzeitig. Liya drehte sich um die eigene Achse, wirbelte ihren Stock über dem Kopf, duckte sich, wich aus, machte kleine Paraden und Ausfälle und wehrte jeden Angriff ab. Sie spürte, wie sich die Farben um sie herum mit den Gefühlen ihrer Gegner veränderten. Überall flammte jetzt das leuchtende Violett der Wut auf, aber auch andere Farben im raschen Wechsel, was auf die enorme Verwirrung der jungen Krieger schließen ließ. Es wurde Zeit, das auszunutzen.
    Zeit, den Spieß umzudrehen.
    Liya schlug zurück. »Klackklackklack!« Ein kurzer Schlagabtausch, und dem überraschten Kleinen flog der Stock aus der Hand. Mit dem nächsten Schlag riss sie ihn von den Füßen. Er schrie auf, aber mehr aus Überraschung als vor Schmerz.
    Nicht anders erging es den nächsten drei Zhan Shi, die Liya mit wenigen kräftigen Stockschlägen entwaffnete. Sie waren zu sehr auf Angriff eingestellt, vernachlässigten ihre Deckung und kamen nicht schnell genug in die Verteidigungsposition. Das rächte sich nun. Liya war überrascht und fast ein bisschen enttäuscht, wie leicht es war, sie von den Füßen zu holen. Sie verpasste den entwaffneten Jungs noch ein paar Schläge obendrein, um klarzumachen, wie entschlossen sie war, sie tüchtig zu verdreschen, falls sie erneut angreifen würden. Aber die bunt flackernden Gefühlswolken hatten längst

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