Panic
unterschied sich grundlegend von dem meiner Eltern. Und diesen Unterschied brauchte ich. Dringend.
»Du bist engagiert«, sagte ich. »Zeig mir die Stadt, aber die Wäsche behalt ich an.«
In den darauf folgenden Monaten ging Kevin mit mir ins Konzert, ins Ballett und ins Kino. Er las mir laut Gedichte von Borges vor, dessen Sprache ihn faszinierte. Wir blieben bis zum Morgengrauen in Jazz-Clubs, unternahmen dann lange Spaziergänge durch die erwachende Stadt und scheuchten auf dem Copley Square Vogelwolken auf.
Wir alle mauern uns ein. Kevin hatte Jahre gebraucht, in Privatschulen und während der Sommerferien auf Nantucket, bis seine Mauer stand. Doch hinter der blasierten Fassade entdeckte ich, dass er Humor hatte, eine Schwäche für Bücher und Interesse an Kunst. Außerdem war er ein Anhänger der Boston Red Sox. In diesem ersten Sommer sahen wir uns ein Spiel im Stadion an – natürlich die Yankees gegen die Red Sox –, und weil er während des fünften Inning ein paar Hot Dogs holen gegangen und nicht zurückgekommen war, ging ich ihn suchen. Ich fand ihn auf den Betonstufen, neben einem fünfjährigen Jungen namens Noel, der im Getümmel seine Eltern verloren hatte. Kevin erzählte Noel Geschichten von Carl Yastrzemski und dem Grünen Monster, während die Sicherheitsleute die Eltern des Kleinen suchten. Noel bemühte sich, tapfer zu sein, dabei lief ihm eine Träne über die Wange. Ein anderer wäre vielleicht nervös geworden. Aber Kevin erzählte seelenruhig weiter, wischte Noel nur sanft die Träne aus dem Gesicht und sagte, genauso habe Yastrzemski die Bälle vom Grünen Monster gewischt. Diese schlichte Geste war vermutlich der Auslöser für meine Liebe zu ihm.
Er war überraschend schüchtern, als ich es endlich zuließ, dass er mich auszog. Er wusste, dass ich indianisches Blut hatte, was ihn gleichermaßen faszinierte wie einschüchterte. Am nächsten Morgen und am Morgen darauf brachte er mir das Frühstück ans Bett.
»Du redest nie über deine Eltern«, sagte er, auf einen Ellbogen gestützt. »Ich meine, sie können doch nicht schlimmer sein als meine. Dad ist mit seinem Büro verheiratet und Mom ist eine Wohltätigkeitsschreckschraube.«
Ich sah ihn lange an, wollte dieses Gefühl nicht zerstören, das in mir aufstieg, dieses Gefühl, dass seine Arme der sichere Hafen waren, den ich brauchte, um mir eine neue Identität aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt begannen die Lügen. »Als meine Mutter starb, war ich noch klein. Mein Vater war einer dieser kalten, herrischen Typen, die im Grunde keine Kinder wollen. Als er letztes Jahr starb, hab ich mir geschworen, die Vergangenheit zu begraben.«
»Und wozu?«
Ich legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen. »Ich hab’s mir eben geschworen. Ich möchte nicht über ihn reden.«
Kevin wollte mehr wissen, doch als er meinen Schmerz sah, lächelte er und küsste meinen Finger. »Das brauchst du auch nicht. Sag mir einfach, wenn du so weit bist.«
Doch es sollte nicht dazu kommen. Und wie alle Lügen fing auch diese irgendwann an, mich zu belasten. Wäre ich wohl jemals bereit, Kevin oder sonst jemandem von meiner Kindheit und vom Tod meiner Mutter zu erzählen, fragte ich mich, als ich im Blockhaus die Küche betrat. Theresa hatte ihren langen Zopf zum Dutt hochgesteckt. Sie löffelte portionsweise gemischten Salat aus einer metallenen Schüssel auf hölzerne Teller. Sheila spähte auf Zehenspitzen aus dem Fenster über der Spüle. Sie hatten mich nicht kommen hören.
»Es ist stockfinstere Nacht. Ich weiß nicht, was du sehen willst«, sagte Theresa zu ihr.
»Grover ist noch da draußen«, antwortete Sheila.
»Grover kommt nie pünktlich zum Abendessen. Bestimmt sitzt er da unten am Felsen und quasselt mit den Vögeln oder dem Geist seiner Mutter oder stellt wer weiß was an.«
»Mach dich nicht über ihn lustig!«
»He, bleib cool, ja? Ich mach mich nicht über ihn lustig. Er ist nur … gruselig, das ist alles.«
»Er ist nicht gruselig«, sagte Sheila. »Er weiß es nur nicht besser. Ich glaube, er geht runter zum Felsen, weil er einsam ist. Geht dir das nie so?«
»Kann schon sein.«
Jetzt bemerkte mich Sheila. Ihre Hände verschwanden in den Falten ihrer Schürze. »Essen dauert noch zehn Minuten«, sagte sie. »Die anderen stehen draußen am Balkon und erzählen sich Geschichten.«
»Sollen sie ruhig«, sagte ich. »Die Angeberei war noch nie mein Fall.«
Theresa lachte, dass die Brüste wackelten. »Dann sind Sie hier aber
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