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Panic

Panic

Titel: Panic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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holte ihn jetzt ein. Ein paar Wochen später war er schon zu schwach, um mit mir in den Wald zu gehen. Von nun an saß er im Schaukelstuhl auf unserer Veranda und erzählte mir von den sechs Welten jenseits unseres Gartens.
    Meine Eltern hielten nichts davon, mich vor dem Tod abzuschirmen, und so half ich ihnen dabei, Mitchell in seinen letzten Tagen zu pflegen. Obwohl mein Vater Arzt war, mochte er keine Krankenhäuser. Mitchell starb, als ich zehn war, in seinem Schlafzimmer im ersten Stock, und wir alle waren um sein Bett versammelt. Viele Monate ging mein Vater nicht mehr in den Wald, als könne er den Schmerz nicht ertragen. Ich fand ihn oft auf der Veranda, wo er saß und ins Weite starrte. Ich setzte mich dann auf seinen Schoß, und er streichelte mir über den Rücken.
    »Ich vermisse Mitchell«, sagte ich. »Aber manchmal habe ich das Gefühl, er ist hier.«
    »Das ist er auch«, antwortete dann mein Vater. »Ich warte nur, dass er ein bisschen Platz macht, damit ich wieder atmen kann.«
    In vielerlei Hinsicht hat mein Vater sich nie mehr ganz erholt von Mitchells Tod. Der Mann, der ihm Halt gegeben hatte, war fort. Doch weil sein Onkel es befürwortet hätte, dass er mich weiter unterrichtete, fingen wir im Spätsommer wieder mit den Lektionen an.
    Ich lernte, wie man im Wald stundenlang reglos ausharrt, mit der Umgebung verschmilzt, bis der Wald einen aufnimmt und sich offenbart. Ein Teil von mir hasste die Käfer und die Kälte und den Regen. Doch wenn mir dann ein Tier begegnete – wie das eine Mal, als sich im Teich, den ich beobachten sollte, zwei Biberjungen tummelten, oder als das Waldhuhn sich kollernd auf mein ausgestrecktes Bein stellte –, war alles Unbehagen vergessen.
    »Weißt du das alles von Mitchell?«, fragte ich ihn eines Tages auf dem Weg nach Hause.
    »Ja.«
    »Wissen so was viele Leute?«
    »Früher schon, deshalb war die Welt für sie voller Magie, was sie ja auch ist«, antwortete er. »Jetzt sehen sie nur noch sich selbst. Sie haben keinen Respekt mehr vor der Natur und ihrer Rolle darin. Sie töten ohne Respekt, ohne Ehrfurcht, ohne Scham.«
    Als ich elf war, lernte ich, was mein Vater als das »richtige Waldverhalten« bezeichnete. Trotz seiner Liebe zur Jagd machte er sich nichts vor; er wusste sehr wohl, dass es Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht wirklich einen Grund gab, Hirsche zu schießen. Wir hatten auch so genug zu essen. Und die Fahrt zum Supermarkt war auf jeden Fall einfacher. Für meinen Vater war die Jagd hauptsächlich eine Zeremonie, ein Ritual, in dem er nicht nur sein inneres Raubtier ausleben konnte, sondern auch seinen indianischen Wurzeln gerecht wurde.
    »Die Jagd erinnert uns daran, dass jedes Leben, um sich zu erhalten, den Tod erforderlich macht«, sagte er einmal. »Nur muss man Achtung haben vor dem Tod, der einen am Leben hält.«
    Deshalb, so mein Vater, sei mein Verhalten bei der Jagd an einen Verhaltenscodex gebunden, der auf der Liebe zu den Tieren und zum Wald und zu mir selbst gründe: Sei dir deiner Beute sicher. Schieß erst, wenn du dir sicher bist, wirklich sauber und menschlich töten zu können. Lass niemals ein Tier verwundet im Wald zurück. Töte nie ein Tier, das du nicht essen wirst.
     
    Galten diese Regeln auch jetzt, da ich Jägerin und Gejagte zugleich war, fragte ich mich, während ich hier im Schnee saß. Ich hatte keine Antwort. Als Griff den Hügel herunterkam, zitterte ich und hatte Schluckauf.
    »Das ist vielleicht mehr, als ich ertragen kann«, sagte ich.
    Griff half mir auf die Beine und sagte: »Sie können jetzt nicht aufgeben. Ohne Ihre Fähigkeiten sind wir doch aufgeschmissen.«
    »Dieser Typ ist Teil des Waldes«, sagte ich. »Er hat mich belauert, ohne die Tiere zu stören. Als würden sie ihn als ihresgleichen akzeptieren.«
    Griff sah mich befremdet an. Er verstand nicht, was ich da sagte, wollte mich aber nicht noch mehr verstören. Er klopfte Schnee und Rinde von meiner Jacke und drückte mir das Gewehr in die Hand. »Cantrell ist da vorn auf Ihre Spuren gestoßen. Sonst hat er keine gefunden. Er kommt hierher zurück, weil das Licht nicht mehr ausreicht, wie er sagt, und außerdem ein Sturm aufzieht. Wir sollten umkehren.«
    »Ich habe Angst.«
     
    Es dämmerte bereits, als wir zum Blockhaus kamen. Die Mounties, um deren Eintreffen ich den gesamten Rückweg gebetet hatte, waren nicht unter den Leuten, die sich vor dem Querbalken versammelt hatten, an dem das erlegte Wild hing.
    »Wo sind sie, Mike?«,

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