Panic
durch die Geschwindigkeit des Gefährts und durch den heftigen Wind entstand ein Sog, der das vertraute Gelände in großen weißen Bissen schluckte und uns schubweise tief in den Wald, tief ins Unbekannte katapultierte. Wachsgagel, Hagedorn und andere mattfarbene Dornengewächse krallten nach uns. Ich hielt mich nur mit Mühe im Sattel, als Griff das Fahrzeug durch Schneeverwehungen manövrierte und tief hängenden Ästen auswich.
Eine Weile jedoch hielten wir ein beständiges Tempo. Ich vergrub das Kinn im Revers des schweren Fleece-Parkas, den ich für die Fahrt herausgeholt hatte. Aus dem Augenwinkel sah ich die geraden Silhouetten von Kiefern und Lärchen vorbeiflitzen. Die Gleisketten der Motorschlitten warfen Schneewolken hinter uns auf, die wirbelten und auseinander drifteten und in sich zusammenfielen. Dieses Treiben, bald fremd, bald vertraut, erinnerte mich daran, wie Mitchell bei Vollmond die nächtlichen Wolken betrachtet hatte.
Mein Staunen über die wirbelnden Flocken im Wind kam einer Wertschätzung der kosmischen Sicht meiner Vorfahren wohl am nächsten. Doch während ich noch solche Überlegungen anstellte, hatte ich das Gefühl, als drohe mir Gefahr, als wirbelten die unsichtbaren Wolken um mich und in mir immer rasanter im Kreis, verdichteten sich zum Auge eines Sturms.
Mein Vater sagte oft, das Verstehen sei das unstete Kind der Verwirrung. Ob das seinem eigenen Hirn entstammte oder auch eine von Mitchells Weisheiten war, kann ich nicht sagen. Damals aber schien der Satz direkt ins Schwarze zu treffen. Mein Vater wollte vermutlich damit sagen, dass wir im Chaos eher unseren Instinkten vertrauen als den angelernten Verhaltensmustern. Indem wir verzweifelt nach Lösungen suchen und uns dabei auf unsere primitivsten Fertigkeiten verlassen, erkennen wir neue Seiten an uns und finden heraus, wozu wir in extremen Situationen imstande sind.
Nach eineinhalb Kilometern streiften wir einen Zweig, und seine eisige Last rieselte mir den Nacken hinunter. Ich schüttelte mich und beschloss, das Grübeln sein zu lassen und mich stattdessen ganz auf meine Aufgabe zu konzentrieren und Griff zu beschützen. Ich drückte das Gewehr fest an mich. Bei jeder Kurve, vor jedem Bachbett, wann immer die weiße Landschaft uns zum Abbremsen zwang, spähte ich forschend zwischen die Bäume. Als wäre ich ein kleines Mädchen und zum ersten Mal bei Dunkelheit im Wald, spielte meine Phantasie mir Streiche: Felsbrocken wurden zu menschlichen Rücken, Zweige zu Armen, und liegende Stämme mutierten zu lauernden Bogenschützen. Der Wald sei voller Zauberer, pflegte Mitchell mir zu sagen. Sie manipulierten die Große Kraft für ihre eigenen Zwecke. Ich hatte ihm nicht geglaubt. Jetzt kam ich ins Zweifeln.
Dann fiel mir ein, dass die Killer, egal in welcher Gestalt, keinesfalls hier unten auftauchen würden. Sie waren geübte Jäger, würden uns von oben belauern. Gerade wollte ich Griff dazu bringen, kurz anzuhalten, damit ich mich umdrehen und nach möglichen Gefahren über uns Ausschau halten könnte, als unser Motorschlitten schlingernd zum Stehen kam.
Cantrell und Arnie waren bereits abgestiegen. Ich ging nach vorn, um zu sehen, was los war. Ein gefällter Baum blockierte den Weg. Seitlich davon spitzte das Gelb eines frischen Stumpfes aus dem Schnee.
»Den hat nicht der Sturm geknickt«, sagte der Kinderarzt voller Angst. »Er wurde gefällt.«
»Verdammte Scheiße«, knurrte Cantrell.
»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Arnie. Seine Wange zuckte. Sein Gewehrlauf vollführte einen kleinen Tanz in der Luft. »Das gefällt mir ganz und gar nicht. Die wollen uns eine Falle stellen. Das ist das nämlich hier. Eine Falle!«
Griff ging seelenruhig an mir vorbei, riss dem jungen Arzt die Waffe aus der Hand, bevor der wusste, wie ihm geschah, und sicherte sie wieder. »Ordnung muss sein, Doc. Wir wollen uns schließlich nicht gegenseitig verletzen.«
Arnie glotzte ihn verständnislos an. Dann ließ er sich auf den Baumstamm fallen, massierte mit der Linken sein Knie, räusperte sich und massierte weiter. Als er wieder aufsah, war sein Blick klar. »Soll nicht wieder vorkommen.«
Wir hatten keine Chance, den Baum zu bewegen, also auch keine Chance, weiterzukommen. Ich stapfte durch den tiefen Schnee hinüber zum Stumpf. Keine frischen Spuren drumherum. Das Wetter hatte das Holz verfärbt. Der Baum war vermutlich vor mindestens ein oder zwei Wochen gefällt worden. Er wies Kerben und Furchen auf, wie eine Axt sie
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