Panic
mir diese Tatsache bewusst wurde, als ich begriff, wie gut er die traditionelle mit der modernen Medizin verband. Es war zwei Tage vor Thanksgiving. Wir waren in unserer Jagdhütte bei Baxter. Katherine sollte tags darauf zu uns stoßen und ihren Urlaub mit uns verbringen. Es hatte seit Tagen immer wieder geschneit – beste Voraussetzungen zum Fährtenlesen –, und wir waren einem ansehnlichen Hirsch auf der Spur gewesen, sodass mir vor Müdigkeit die Augen schon beim Essen zufielen. Da klopfte es an der Tür: ein Mann aus dem benachbarten Camp, etwa drei Kilometer von unserem entfernt. Sein Sohn hatte hohes Fieber und klagte über Bauchschmerzen.
Ihre Hütte war mit Teerpappe gedeckt und bestand nur aus einem einzigen Raum, mit einem dickbäuchigen Ofen in der Mitte. Kerosinlampen hingen von den Balken. Ein halbes Dutzend Männer bevölkerte den Raum. Ihre einteilige Unterwäsche bauschte sich aus grünen Wollhosen. Sie musterten mich, als wäre ich in ihr Allerheiligstes eingedrungen. Was auch stimmte. Ein paar von ihnen beäugten auch meinen Vater in dieser Weise. Er war zwar Arzt, aber auch Indianer. Falls mein Vater ihre Vorurteile spürte, ließ er sich nichts anmerken. Er ging geradewegs auf den Jungen zu, der schweißüberströmt auf einer der unteren Pritschen lag und sich wand vor Schmerzen. Frank war drei Jahre älter als ich, eigentlich ein hübscher Bursche, mit rötlichem Haar, Sommersprossen und dicken Händen. Doch das Fieber hatte seine Haut ausgespült, sodass sie wächsern wirkte.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, blieb ich an der Tür stehen und atmete durch den Mund, um die Männer nicht riechen zu müssen, die sich schon seit über einer Woche nicht mehr gewaschen hatten. Mein Vater kniete sich neben Frank und untersuchte ihn ein paar Minuten. Der Junge stöhnte weiter. Ich erinnere mich an dieses Stöhnen.
Wie dem auch sei, mein Vater jedenfalls stand plötzlich auf und sagte: »Frank muss ins Krankenhaus, aber bei diesem Wetter ist das zu weit. Wir müssen ihn hier operieren.«
Er wies Franks Vater und ein paar der Männer an, den hölzernen Picknicktisch abzuräumen. Sie fanden ein Laken, das nicht allzu dreckig war, zogen Frank aus – was meinen Blick bannte; immerhin war ich zwölf – und legten ihn auf den Tisch. Mein Vater rief mich zu sich und bat mich, ihm zu helfen. Ich schüttelte den Kopf, doch sein Blick ließ mir keine Wahl. Ich half ihm also beim Auskochen der Instrumente. Er träufelte ein wenig Flüssigkeit auf ein Stück Gaze und bat Franks Vater, es seinem Jungen auf den Mund zu drücken. Frank hörte auf zu stöhnen.
Während mein Vater arbeitete, suchte ich in seinem Gesicht nach Zeichen. Er bot aber keine, zwinkerte mir allenfalls zu und hatte für Franks Vater, der heftig schwitzte, das eine oder andere aufmunternde Wort. Ich reichte meinem Vater die geforderten Instrumente, ohne den Patienten anzusehen. Als ich die Wunde abtupfen sollte, wandte ich den Blick zur Seite und besah mir Franks Penis, weil es sonst nichts gab, worauf ich mich konzentrieren konnte. Nach einer Stunde war alles erledigt. Ein paar Minuten später, und der Blinddarm wäre geplatzt. Wir blieben die ganze Nacht, bis das Fieber des Jungen abgeklungen war. Bei Sonnenaufgang sagte mein Vater, Frank müsste so schnell wie möglich in ein Krankenhaus gebracht werden, würde aber mit ein wenig Ruhe bald wieder gesund werden.
Der Mensch braucht Krisen, um sein Leben zu überdenken. Auf dem Rückweg zu unserer Hütte sah ich den dicken Schneeflocken zu, wie sie im Morgengrauen gegen die Scheibenwischer des Lkws klatschten, und döste vor mich hin. In diesem hypnotischen Zustand wollte ich plötzlich wissen, warum mein Vater Arzt geworden war, also fragte ich ihn. Er schwieg eine Weile, dann sagte er, der wichtigste Grund sei der folgende: Er habe von frühester Jugend an gelernt, dass es für ein erfülltes, aufrechtes Leben unerlässlich sei, die innere Balance zu finden.
»Wer ein Jäger sein will und Leben nimmt, muss auch ein Heiler sein und Leben schenken«, sagte er. »Arzt zu werden war für mich ein Weg, modern und dennoch in der Balance zu sein.«
Was natürlich ziemlich ironisch ist, wenn man bedenkt, was sechs Jahre später geschah. Doch ich greife den Ereignissen vor, denn in diesem Moment meiner Träumerei scheuchten wir einen Elchbullen aus seinem Bett, keine fünfundzwanzig Meter vom Weg zum Camp 4 entfernt. Wer noch nie gehört hat, wie ein Elch in blinder Panik durch
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