Panik: Thriller (German Edition)
eigenen Kopfschmerzen wie weggeblasen waren. Sie legte eine Hand auf Schillers Wange und streichelte seine Schläfe mit dem Daumen.
» Siehst du, kleiner Bruder«, sagte sie lächelnd. » Was hab ich dir gesagt? Alles okay.«
Obwohl er sie über den Lärm hinweg nicht verstanden hatte, lächelte er zurück. Das Scheinwerferlicht brachte seine Augen zum Strahlen.
Was nicht lange andauerte.
Sie musste sich gar nicht umdrehen, um zu wissen, was er da anstarrte. Als würde sie es mit ihren eigenen Augen sehen– einen Mann und ein Mädchen im Teenageralter, die auf sie zurannten. Und noch etwas anderes, etwas Verfaultes, dann ein Mädchen und zwei Jungs, die in einem alten Restaurant schliefen, jemand, der durch einen Wald lief, jemand, der in einem Auto fuhr, dann weitere Bilder, ein Dutzend, zwei Dutzend. Die Bilder waren so klar, dass ihr schwindlig wurde. Als hätte man sie aus ihrem Körper gerissen und auf eine blitzschnelle Umlaufbahn befördert.
Schiller rief ihren Namen. Sie wirbelte herum. Der Mann und das Mädchen rannten auf sie zu– schnell– und grunzten dabei wie Schweine. Die anderen, die vor den Autos herumgelungert hatten, schlossen sich ihnen an.
Sie hatten alle den gleichen Gesichtsausdruck, der im Gegenlicht nur schwer zu erkennen, aber unmissverständlich war. Sie waren wütend. Diese Leute wollten sie umbringen, begriff Rilke mit absoluter, unzweifelhafter Gewissheit. Sie wollten sie zu Tode trampeln, sie zerquetschen.
Sie gab Schiller einen Stoß. » Lauf!«, rief sie.
Brick
Fursville, 00 : 34 Uhr
Wie ein Schwimmer, der zu tief getaucht ist, durchbrach er die Oberfläche eines Ozeans aus Finsternis. Er erwartete, Wärme und Tageslicht auf seinem Gesicht zu spüren, fand sich jedoch in einer endlosen, kalten Nacht wieder. Er versuchte zu atmen, wusste nicht mehr, wie er das anstellen sollte. Seine Lungen brannten.
Der Neue, Cal, war direkt neben ihm und leuchtete so seltsam wie eine Tiefseequalle. Der Junge zappelte in einem Strom der Finsternis. Seine Augen traten aus den Höhlen. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land. Und dahinter trieb eine kleine Gestalt, die nur Daisy sein konnte. Ihre dünnen Ärmchen ruderten durch das Wasser, als sie verzweifelt versuchte, die Oberfläche zu erreichen.
Er streckte den Arm aus. Auch seine eigene Haut leuchtete schwach, als wäre sie radioaktiv. Brick bekam Cal zu fassen, der wiederum Daisy packte, und zu dritt strampelten sie der Oberfläche entgegen.
Brick wachte auf. Seine Schreie gingen in ein Husten über, als hätte er die Finsternis in seine Lunge gesogen. Er stand so rasch auf, dass der Stuhl umfiel. Es war stockdunkel, aber immerhin spürte er den Boden unter seinen Füßen und die schmerzende Wange, mit der er auf dem Laptop gelegen hatte. Und irgendetwas klingelte in seinen Ohren, eine allumfassende Stille, wie das Gegenteil von Kirchenglocken, die eine klaffende Leere in seinem Kopf hinterließ.
Daisy schrie vor Angst auf. Brick kniff die Augen zusammen– obwohl es völlig dunkel war– und rief sich in Erinnerung, wo sie gelegen hatte.
» Keine Angst«, rief er und tastete sich auf der Suche nach den Streichhölzern am Tisch entlang. » Keine Angst, wir sind ja hier.«
Sie weinte noch lauter. Er hörte, wie sie mit einem dumpfen Krachen von der Chaiselongue fiel.
» Bleib ruhig, Daisy. Nicht bewegen, sonst tust du dir noch weh.«
Er entdeckte die bis auf einen Stummel heruntergebrannte Kerze und daneben die Streichholzschachtel. Er nahm eines heraus und zündete es an. Die kleine Flamme tauchte das weitläufige Restaurant in schwaches Licht. Daisy stand mit ausgestreckten Armen neben dem Sofa. Ihr Schluchzen verstummte, als sie das brennende Streichholz bemerkte.
» Hier«, sagte eine weitere Stimme. Brick drehte sich um und sah, wie Cal durch den Raum auf ihn zukam. Er hatte eine Kerze in der Hand. Brick zündete sie an und stellte sie auf den Tisch. Daisy lief auf Cal zu und drückte sich fest an ihn. Sie war immer noch schlaftrunken. » Alles klar?«, fragte Cal. » Schlecht geträumt?«
» Wir sind alle ertrunken«, murmelte sie in sein T-Shirt. » Du und der andere Junge auch.«
» Brick«, erinnerte sie Brick. Cal sah ihn an, und als sich ihre Blicke trafen, begriff Brick, dass der andere genau denselben Albtraum gehabt hatte– und nicht nur das. Hätte er ihnen im Traum zugewinkt, hätten sie es gesehen. Das Klingeln in seinem Kopf wurde lauter und doch unendlich leiser. Er knirschte mit dem Kiefer, um die
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