Panik: Thriller (German Edition)
Schiller noch enger an sich und ging so schnell, dass sie ihn förmlich mitzerren musste.
» Mach schon«, sagte sie. » Es ist nicht mehr weit.«
Die Musik erreichte sie zur selben Zeit wie der Geruch des Ozeans.
Sie hasste diesen Gestank. Es hieß ja, dass man in Großbritannien nirgendwo mehr als siebzig Meilen von der Küste entfernt war. Und jedes Jahr kroch das Meer etwas näher, spülte den Strand und die Klippen fort, fraß das Land Meter für Meter. Nicht nur seine schiere Größe machte ihr Angst– es reichte von hier bis zum nächsten Kontinent–, sondern auch seine unbegreifliche Tiefe. Das Meer war so groß, und wenn es eines Tages anschwoll, seine dunklen Gedärme über das Land ergoss, konnte es einfach so die ganze Welt verschlingen. Eine erschreckende Vorstellung– aber eigentlich gar nicht so schlecht. In dieser Welt gab es nicht viel, was Rilke zum Lachen brachte.
Sie atmete durch den Mund und konzentrierte sich auf den Lichtschein vor ihnen. Scheinwerfer strahlten aus einem etwa eine halbe Meile entfernten Stoppelfeld, warfen das Licht auf die Sterne und das große grinsende Mondgesicht zurück. Die Musik war nur ein rhythmisches Pulsieren in ihren Füßen, als wäre der Erdboden zum Leben erwacht. In Wahrheit hasste sie solche Partys, hasste die Menschen dort, die entweder high oder völlig besoffen waren. Alles Idioten. Die meisten Menschen waren Idioten. Aber immer noch besser als eine weitere langweilige Nacht zu Hause. Rilke brauchte sowieso nicht viel Schlaf.
Sie richtete den Lichtkegel auf eine schmale, grasbewachsene Anhöhe, dann kletterte sie hinauf. Schiller hing an ihrem Arm wie eine Klette. Auf dem unebenen Boden kamen sie nur mühsam voran. Die Erde war ziemlich hart, und sie marschierten in einer Ackerfurche, um nicht zu stolpern. Je näher sie kamen, desto mächtiger wurde der Herzschlag der Musik. Er knallte in ihren Ohren, strich über ihre Haut und hallte als Echo in ihrem Kopf wider– dum-dum … dum-dum … dum-dum –, als ob irgendetwas in ihrem Schädel eingesperrt wäre und sich zu befreien versuchte.
Sie hatten das Feld zur Hälfte überquert, da blieb Schiller stehen und rammte seine Füße wie einen Anker in den Boden. Sie drehte sich um und leuchtete ihm ins Gesicht.
» Ich will da nicht hin«, jammerte er und kniff die Augen zusammen. » Ich hab Angst.«
» Schill, du bist so ein Baby«, antwortete sie und zerrte ihn mit sich. Er wehrte sich nach Kräften.
» Da wird was Schlimmes passieren«, sagte er.
» So ein Quatsch.« Doch noch während sie die Worte aussprach, spürte sie, wie etwas tief in ihr schrie: Er hat recht er hat recht er hat recht – ein stummer Adrenalinschub. Sie waren jetzt nahe genug, um die Autos und Kleinbusse zu erkennen, die die Party wie eine Planwagenburg umgaben. Und dahinter die zuckende Fleischmasse, die im Takt des markerschütternden Herzschlags zu atmen schien.
Rilke schluckte. Ihr war plötzlich sehr kalt. Beinahe hätte sie sich auf der Stelle umgedreht und wäre über das Feld nach Hause zurückgelaufen. Wieder war es ihre Sturheit, die diesen instinktiven Warnschrei unterdrückte. Bei den Bastions waren immer die Frauen die Stärkeren. Sie sagten, wo es langging.
Sie klemmte Schillers Arm fest zwischen ihren eigenen und zog ihn über das Feld. Eine Leine wäre nicht schlecht, dachte sie. Sie gingen etwa eine Minute lang weiter, dann waren einzelne Gestalten in der Menge auszumachen, Teenager und Zwanzigjährige, die alle Leuchtstäbe am Körper trugen. Die meisten hatten sich innerhalb des Autokreises versammelt, aber ein paar lungerten im Schatten der Fahrzeuge herum, redeten, küssten sich oder waren ganz in ihrem persönlichen drogenvernebelten Tanz versunken. Hier war nichts, wovor man Angst haben musste. Sie wollte sowieso nur eine Stunde oder so bleiben, um das auch mal gesehen zu haben. Dann konnten sie ja nach Hause gehen. Sie würde so tun, als würde sie wegen Schiller zurückgehen. So war er ihr einen Gefallen schuldig.
Er wehrte sich wieder. Ohne langsamer zu werden, sah sich Rilke um. Er sagte irgendetwas, das sie durch den ohrenbetäubenden Bass, der direkt aus der Erde aufzusteigen schien, nicht verstehen konnte. Sie formte das Wort Was? mit den Lippen, zuckte mit den Schultern und wartete darauf, dass er erneut anfing zu jammern. Tat er aber nicht.
Er beugte sich vor. » Mein Kopf«, schrie er. » Mein Kopf tut nicht mehr weh.«
Sie wollte gerade antworten, als sie bemerkte, dass auch ihre
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