Panik: Thriller (German Edition)
wirklich passieren.
Und Schiller werden sie auch umbringen. Seine Schreie werden das Letzte sein, was du hörst. Und das war nicht unmöglich. Das war nicht verrückt. Das war nur zu real. Sie würden ihren Bruder töten und in den Boden stampfen.
Nein. Das konnte sie nicht zulassen. Nicht ihn.
Rilke riss den Kopf so heftig nach oben, dass sie schon befürchtete, sich dabei das Genick zu brechen. Sie griff mit der linken Hand nach hinten, packte eine Handvoll Haut und Fleisch und drückte zu. Wieder grunzte jemand, doch diesmal vor Schmerz. Der Druck auf ihren Rücken ließ nach– jedenfalls so weit, dass sie vorwärtsrobben konnte. Schiller war fast in Reichweite. Vier oder fünf prügelten auf ihn ein, ganz unterschiedliche Menschen, und trotzdem hatten sie die gleiche hassverzerrte Miene. Ihre Hände und Füße hoben sich und sausten herab, auf und nieder wie die Kolben einer grässlichen Maschine. Doch Schiller lebte noch. Sie sah ihn durch die Lücken in der Menge. Er streckte eine Hand nach ihr aus.
Wenn sie ihn nur erreichen könnte, um… um was? Um Händchen haltend zu sterben? Nein, da war noch mehr. Etwas anderes.
Schwere Knöchel bohrten sich in ihr Bein, eine Faust in ihre Schulter. Sie kroch mit aller Kraft weiter. Jetzt war sie ganz nahe. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie von Schiller, und doch war es ein unüberwindlicher Abgrund.
» Schill«, keuchte sie durch ihr Blut. Er hörte sie und sah sie mit geröteten, ungläubigen Augen an. Sie streckte die Hand nach ihm aus, fünf Zentimeter, dann vier, drei, zwei.
Als sich ihre Fingerspitzen berührten, explodierte die Welt in dunklem, kaltem Feuer.
Daisy
Fursville, 00 : 44 Uhr.
» Hat’s funktioniert?«, fragte Cal.
» Hat was funktioniert?«, sagte Brick. » Hier rumzustehen und sich an den Händen zu halten wie ein paar Bekloppte?«
Denn genau das taten sie. Sie hatten sich im flackernden Licht im Kreis aufgestellt. Daisy wusste auch nicht so genau, wieso. Sie hatten es einfach getan, aus Instinkt, so wie man zusammenzuckt, wenn jemand nach einem schlägt oder Schutz sucht, wenn ein Gewitter aufzieht.
» Es hat funktioniert«, sagte Daisy und löste ihre Finger aus Bricks großer, verschwitzter Hand. Brick ließ auch Cal los, und beide wischten sich die Hände an ihrer Kleidung ab, als hätten sie sich vergiftet. Cal hielt ihre noch einen Augenblick fest und drückte sie leicht.
» Woher willst du das wissen?«, fragte er.
» Weiß ich eben«, sagte sie wahrheitsgemäß. Sie hatte es in ihrem Kopf gesehen, in einem dieser kleinen Eiswürfel. Na ja, sehen war vielleicht der falsche Ausdruck. Sie hatte eigentlich gar nichts gesehen, nur gespürt. Und was hatte sie gespürt? Zwei Menschen, vielleicht auch nur einen, sie waren sich so ähnlich, dass sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte. Sie hatten Angst gehabt. Und Schmerzen. Sie waren kurz vor dem Tod gewesen.
Und dann?
Da war Daisy ratlos. Irgendwie hatten sie– Daisy, Cal und Brick– ihnen geholfen. Sie hatten etwas getan. Sie spürte die Person– oder die Personen– immer noch. Zwillinge, begriff sie und holte tief Luft. Irgendetwas war anders an ihnen, aber sie wusste nicht genau was.
Sie waren auf dem Weg hierher, so viel war sicher. Daisy runzelte die Stirn, versuchte sich zu erinnern, was sie in diesem durchsichtigen, klirrenden Film gesehen hatte, der in ihrem Kopf abgelaufen war. Etwas machte ihr Angst. Irgendetwas brannte, sie konnte es nicht genau erkennen.
» Und jetzt?«, fragte Brick. » Sollen wir Räucherstäbchen anzünden und ›Kumbaya‹ singen?«
Daisy antwortete nicht. Sie starrte das Feuer in ihrem Kopf an, versuchte herauszufinden, was hier falsch lief, warum sie solche Angst hatte.
Rilke
Farlen, 00 : 45 Uhr
Ihr erster Gedanke: Ich bin tot.
Der zweite Gedanke war, dass das gar nicht möglich war, weil sie ja noch denken konnte. Dann dämmerte ihr, dass sie noch lebte, weil sie Schmerzen hatte.
Sie öffnete die Augen. Ihre Lider klebten zusammen, als hätte sie eine Woche lang geschlafen. Die Sterne bewegten sich, kreisten über die unendliche schwarze Leinwand des Nachthimmels. Ihre Ohren dröhnten. Jede Faser ihres Körpers pulsierte schmerzhaft. Rauch stieg ihr in die Nase. Er füllte ihren Kopf und hüllte ihre Gedanken und Erinnerungen in dichten Nebel.
Warum war sie hier?
Schiller, flüsterte ihr Verstand, und sofort erwachte sie aus ihrem Dämmerzustand. Sie setzte sich auf. Ohne Vorwarnung schoss ein Strahl milchweißer Kotze aus
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