Pantoffel oder Held?: Roman (German Edition)
sich doch bestimmt was gedacht.« Zum Beispiel, dass sie mir einen entspannten Tag bescheren wollten. Dass ich in Ruhe essen kann, ohne jeden Bissen in den Mund gezählt zu bekommen und von meiner Schwester mit Diät-Tipps versorgt zu werden.
»Was sollen sie sich denn bitte dabei gedacht haben, unsere Familie auseinanderzureißen?«
»Wir können uns doch nach dem Essen unterhalten.« Vorsichtig entwinde ich ihr die Kärtchen. »Schließlich ist das Omis sechzigster Hochzeitstag und da sollte sie bestimmen dürfen, wer wo sitzt.«
»Aber sie ist offensichtlich verwirrt.« In diesem Moment kommen meine Großeltern auf uns zu, er lang, schlank, mit schlohweißem Haar und ebensolchem Vollbart, sie fast einen halben Meter kleiner, zierlich, mit streichholzkurzer, blond gefärbter Pixie-Frisur und dramatisch schwarz umrahmten Augen. Sie sieht aus wie Twiggy. Nur viel, viel älter.
»Je schöner der Abend, desto später die Gäste!« Sie drückt mich an sich. »Was hast du denn da?«
»Oh, äh, die Tischkärtchen von, ich … Gut siehst du aus«, stammele ich.
»Danke, Schätzchen. Die stellen wir mal wieder an ihren Platz, nicht wahr?« Rigoros nimmt sie mir die Karten aus der Hand und marschiert los, während ich meinen Opa begrüße. Für ihre Verhältnisse geradezu kopflos stürzt Mama ihrer Schwiegermutter hinterher.
»Anni, ist dir da nicht ein kleines Missgeschick unterlaufen?«
»Durchaus nicht.«
»Aber wo sitzen denn Franzi und Fabian? Doch nicht etwa am Kindertisch? So jung sind sie nun wirklich nicht mehr.«
»Die beiden sitzen bei uns!«
»Tatsächlich?« Verwirrt sieht meine Mutter zu dem großen, runden Tisch hinüber, in dessen Mitte eine goldene Sechzig prangt. »Aber wieso …«
»Wieso nicht?« Resolut stellt Anni »Gerhard« und »Ingrid« an ihre vorgesehenen Plätze, während meine Mutter, ein seltener Anblick, um Worte ringt.
»Nun gut, na ja.« Dann, noch seltener, gibt sie sich geschlagen und schaut sich suchend im Raum um. »Wo Hildegard nur bleibt?« Hilde ist die Cousine meines Vaters. »Sie ist doch sonst nie zu spät.«
»Oh, sie kann nichts dafür, dass sie nicht pünktlich ist. Sie ist nicht eingeladen.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil sie eine dumme Tratschtante ist. Darum!«
Manchmal, wenn ich Angst vor dem Älterwerden bekomme und fürchte, dass ein Leben nach der Menopause aus einer Aneinanderreihung von endlosen, eintönigen Tagen voller uninteressanter Kaffeekränzchen und Fernsehabende besteht, dann denke ich an Omi Anni. Bei ihr ist immer etwas los. Sie schert sich nicht im Mindesten um das, was andere sagen. Mitunter glaube ich sogar, dass ihre ständige Verhunzung von Sprichwörtern eigentlich eine Auflehnung gegen jegliche Form von Konventionen ist.
Sie ist mein großes Vorbild. Sie lädt zu ihren Feiern die Menschen ein, die sie mag, und nicht die, die sie laut Verwandtschaftsgrad zu mögen hat. Sie trifft ihre Freundinnen nicht nachmittags zum Kaffee, sondern abends zu Caipirinhas. Sie sitzt Samstagsabends nicht mit meinem Opa auf der Couch und schaut fern, sondern geht mit ihm ins Kino. Wenn ich mir die beiden so anschaue, würde ich nicht einmal ausschließen, dass sie möglicherweise Sex miteinander haben. Aber so genau möchte ich das eigentlich gar nicht wissen. Erstens, weil die Natur es offensichtlich so eingerichtet hat, dass alleine der Gedanke an Familienmitglieder, insbesondere Eltern und Großeltern, die miteinander Sex haben, einen Schüttelreflex auslöst, und zweitens, weil ich es nicht ertragen könnte, wenn meine sechsundachtzigjährige Großmutter ein aufregenderes Liebesleben hätte als ich.
Am Tisch meiner Großeltern sitzen außer uns noch die Rosenheimers, die damals Trauzeugen waren und praktischerweise ebenfalls geheiratet haben, außerdem Liselotte, die Schwester meines Opas mit Mann und Tochter, und schließlich meine Tante Trude mit ihrer Lebensgefährtin Annabelle. In dieser durchmischten Runde verbringen wir einen höchst vergnüglichen und entspannten Abend, lauschen ergriffen der Rede von Hinrich und lassen uns nach Annis resoluter Aufforderung »Genug geheult. Man soll die Feste feiern, wie sie vom Himmel fallen« das Festessen und den guten Wein schmecken. Als Fabian und ich merken, dass wir vergessen haben, uns darüber abzusprechen, wer nüchtern bleibt und fährt, ist es längst zu spät und wir sind beide ziemlich beschwipst.
»Unter den Augen meiner Mutter wäre das nicht passiert«, kichere ich albern, während er im
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