Papa
Fingernägel kratzten über den Beton. Sie spürte kaum, dass sie einrissen.
Wieder die Tür.
Nein, nicht weggehen.
Michelle wollte rufen, gegen die Tür klopfen, doch das Dröhnen und Schlagen in ihrem Kopf lähmte sie. Ihr Körper schrie nach Schlaf. Jede Bewegung schien falsch zu sein.
Michelle schloss die Augen. Mit der Zeit ließ der Schmerz nach, und sie entspannte sich. Sie rollte sich wimmernd auf dem Boden zusammen wie ein geschlagener Hund. »Hilfe«, murmelte sie kraftlos und atmete schwer dabei. »Helfen Sie mir.« Doch schon die kleinste Anstrengung lockte die glühenden Pfeile zurück, die erbarmungslos auf sie einstachen.
Komm, gib auf. Was willst du denn noch? Sieh dich doch mal an, wie jämmerlich du daliegst. So willst du deine Tochter retten? Du kannst dich ja nicht einmal selbst retten. Wie wäre es, wenn du einfach stirbst?
Vorsichtig bewegte sie den Kopf hin und her. Nein, aufgeben war keine Option.
Erneut krachte die Tür. »Mist, verdammter! Nein, auf keinen Fall!«, fluchte eine Stimme. Gedämpft, wie durch Wolldecken und weit weg. Michelle zwang sich, leise zu atmen. Ein. Aus. Kein Geräusch machen. Lauschen. Und im richtigen Moment das bisschen an Kraft ausnutzen, das irgendwo in ihr steckte. Eine Kraft, die sie nicht fühlte, die aber verdammt noch mal da sein musste.
»Nun mach dich nicht so schwer. Wir hatten eine Vereinbarung.« Schlurfende Schritte. Dann war wieder alles ruhig. Michelle dachte schon, dass sie ihre Chance verpasst hätte, als die Person mit schnellen Schritten zurückkam. Sie holte tief Luft und rief, so laut sie konnte. »Hilfe! Helfen Sie mir. Bitte!« Ihre Stimme riss ab. Ihre Reserven waren verbraucht. Jetzt musste sie warten und hoffen, dass sich die Tür vor ihr öffnete.
[home]
Kapitel 35
T ommi fuhr 15 km/h schneller als erlaubt. Die Straßen waren eng, und an einigen Stellen entging er nur durch Glück einem Unfall.
Blaue Mülltonnen schossen vorüber, und manch drohende Faust erhob sich hinter ihm. Er zwang sich, langsamer zu fahren. Es musste alles reibungslos funktionieren. Fast hatte er es geschafft.
Mit Blick auf den Tacho trat er auf die Bremse. Das Auto reagierte sensibler als angenommen, und er wurde unsanft gegen das Lenkrad gedrückt.
Verdammt, konzentrier dich
, ermahnte er sich. Er durfte nicht riskieren, schon auf dem Hinweg geschnappt zu werden. Die Polizei fand Leichen im Kofferraum in der Regel nicht so erregend wie er.
Rechts ging es in die
Hammer Straße
, vorbei an einer Autowaschanlage und einigen kleineren Läden. Hier war mehr Platz für seinen Wagen, und sein Puls beruhigte sich langsam. Er wischte sich die Hände an der Hose ab und fasste wieder an die feuchten Stellen des Lenkrads.
»Papa, bitte, dreh um.«
Tommi zuckte zusammen, als er die Stimme hörte. Er schaute auf die Rückbank. Nur kurz. Er durfte die Straße nicht aus den Augen lassen.
Bau keinen Unfall. Nicht mit einer Leiche im Wagen. Das wäre wirklich blöd.
Er atmete ein paarmal tief durch, um nicht auszurasten. Was hatte Lillian hier verloren? Warum war sie nicht in ihrem Zimmer? »Was machst du hier?«, fauchte er, und seine Augen sprangen zwischen Rückspiegel und Straße hin und her.
»Ich habe mich versteckt«, sagte das Mädchen kleinlaut. »Ich kann nicht zulassen, dass du Mist machst.«
»Du kannst nicht?« Das war absurd. Er stritt mit einem kleinen Kind. Langsam, aber sicher wurde die Kleine nervig. Die Hoffnung, sie an seiner Seite akzeptieren zu können, hatte er inzwischen aufgegeben. Es wurde Zeit, ihr zu zeigen, wer die Oberhand hatte. »Hast du die Tabletten genommen?«
Lillian wich seinem Blick aus und schüttelte den Kopf.
»Du weißt, du bist krank. Willst du, dass es dir schlechter geht? Willst du das?«
Wieder schüttelte sie den Kopf, doch dieses Mal schaute sie ihm in die Augen. »Ich bin nicht krank. Du sagst das nur. Du bist derjenige, der krank ist. Du musst die Tabletten nehmen. Aber du tust es nicht. Dir würden die Tabletten helfen. Nicht mir. Du weißt das, du willst es dir nur nicht eingestehen.«
Der Wagen machte einen Schlenker, als Tommi auf einem Zebrastreifen einem Pärchen ausweichen musste. »Halt dein schändliches Maul«, kreischte er, und seine Zähne klapperten aufeinander. Seine Hände krallten sich ins Lenkrad, bis die Knöchel weiß hervorstanden. »Ich hätte dich längst beseitigen sollen. Du bringst mir nur Unglück.«
Lillian war wie verwandelt. Sie wirkte nicht mehr wie ein ängstliches Mädchen. Sie war
Weitere Kostenlose Bücher