Papa
schüttelte den Kopf. »Nein, wir können noch etwas tun. Sie müssen uns einen Termin besorgen.«
»Ich? Bei wem?«
»Bei Frau Prof. Dr. Claudia Kramme. Jetzt will ich alle Unterlagen über Tom sehen. Es muss einen Anhaltspunkt geben, wo er sich aufhalten könnte. Und danach stelle ich Michelles Wohnung auf den Kopf. Ich habe keine Lust mehr abzuwarten, bis etwas passiert.«
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Kapitel 33
E ine Welle aus gleißendem Schmerz traf Lillians Gesicht, ließ den röhrenden Hirsch erzittern, der als Gemälde an der Badezimmerwand hing. Für einen kurzen Moment wollte sie ihm zurufen: »Lauf! Lauf, solange du noch kannst.« Doch der Hirsch konnte ebenso wenig fliehen wie sie.
»Habe ich nicht immer alles für dich getan? War ich nicht immer für dich da?« Tommis Lippen bebten, dann riss er den Mund auf. »War ich das nicht? War ich nicht immer gut zu dir?« Er schlug mit der Faust neben ihr in die Wand. Gips platzte ab und fiel staubig zu Boden.
Lillian machte sich klein. Sie durfte ihm keine Angriffsfläche bieten. In seinem Zustand konnte man nicht vorhersagen, was geschehen würde. Wie weit er gehen würde.
»Stattdessen machst du mir Vorwürfe. Kritisierst, was ich tue.« Speichel flog ihm aus dem Mund. »Willst mich von meinem Weg abbringen? Ich habe deine Nörgeleien so satt.« Er betrachtete sich im Badezimmerspiegel.
Über Lillians Wangen liefen Tränen. »Ich habe nur Angst vor dem, was aus dir geworden ist. Du hast dich so verändert. Warum kannst du nicht sein, wie du früher warst?«
Tommi schlug ihr ins Gesicht. Ihre Wange schien zu explodieren, doch das hielt sie nicht auf. Jetzt hatte sie es schon so weit getrieben, dass es kein Zurück gab. »Hör auf damit«, schrie sie. »Hör auf!« Doch das machte ihn noch rasender. Sein gerötetes Gesicht verzog sich zu einer Fratze, und er sah mehr denn je aus wie ein Fremder.
»Du bist nicht mein Papa«, hauchte sie.
»Doch, mein Schatz, der bin ich, weil dein echter Vater ein Schlappschwanz ist, weil er dich verlassen hat und erst für dich da war, als ich dir weggenommen wurde. Aber ich bin hier. Ich war immer hier. Es wird Zeit, dass du mich als das ansiehst, was ich bin. Er liebt dich nicht. Nicht so wie ich.«
Lillian schaute zu ihm auf. Wie ein Felsmassiv stand er vor ihr. Rauh, unnachgiebig. Wer immer ihm zu nahe kam, musste damit rechnen, in eine Schlucht zu stürzen und zu sterben.
»Es ist fast vollbracht«, sagte er plötzlich so leise, dass Lillian ihn kaum verstand. »Alle sind sie jetzt bei mir. Niemand kann mich mehr daran hindern, das Ritual zu beenden. Und danach wirst du alles verstehen. Dann, wenn meine Kunst Gerechtigkeit in die Welt bringt.«
»Deine …«, sie schluckte. »Deine Kunst?«
»Picasso hat mal gesagt:
Ich male die Nasen absichtlich schief, damit die Leute gezwungen sind, sie anzusehen.
Würde ich einfach nur über die Menschen richten, sie verurteilen und hinrichten, würde mich jeder nur als Mörder sehen. Als Psychopathen. Doch durch meine Kunst werden sie gezwungen sein, genauer hinzuschauen. Sich mit meinem Werk zu beschäftigen. Sie werden erkennen, was dahintersteckt, und verstehen, dass es notwendig war. Ich werde der gutmütige Vater sein, der den Unrechten mit Gerechtigkeit straft. Sie werden zu mir aufsehen, und ich werde über sie wachen. Das ist es doch, was die Menschen wollen.«
»Tommi«, flehte Lillian. Sie wusste, bald schon würde sie nicht mehr gegen ihn ankommen.
»Nenn mich nie wieder Tommi«, donnerte er, packte sie am Kragen ihrer Bluse und zog sie hoch, als wäre sie nur eine Puppe. »Wenn
du
mich schon nicht als Vater siehst, wie sollen es die anderen können?«
»Papa«, hauchte Lillian. »Bitte!« Seine Faust bohrte sich schmerzhaft in ihr Kinn, doch sie wagte nicht, sich zu wehren. Das Bergmassiv war in Aufruhr, drohte einzustürzen und alles unter sich zu begraben. Sie wollte das alles nur überstehen.
Langsam senkte er die Arme und ließ sie runter. »Es gibt noch viel zu tun«, sagte er sanft und zog sich aus. Lillian hatte für ihn Badewasser eingelassen. Die Arbeit war schmutzig gewesen, und bevor er sein neuestes Kunstwerk öffentlich ausstellte, wollte er sauber sein.
Das getrocknete Blut auf seinen Armen roch intensiv, während sich die Krusten lösten und im warmen Wasser Schlieren hinter sich herzogen. Etwas Entspannung tat den Muskeln gut. Er drehte sich zu Lillian, wollte ihr noch etwas sagen, doch sie war nicht mehr im Raum. Wie so häufig war sie lautlos
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