Papa
nicht laut singend verstecken. Er würde so leise sein wie eine Spinne, würde warten, bis der richtige Moment kam. Und dann wäre es zu spät für sie.
Wenn er dich holen wollte, hätte er es schon getan, was meinst du?
Michelle harrte noch eine Weile aus, doch irgendwann wurde die Ruhe unerträglich. Sie ging zum Fernseher und schaltete ihn ein.
»… fahndet die Polizei nach Thomas Ried. Frau Dr. Claudia Kramme im Interview:
Unser Sicherheitssystem ist eines der besten in Deutschland. Allerdings kann es eine hundertprozentige Sicherung nicht geben. Menschen machen Fehler. Leider ist das so. Zurzeit können wir noch nicht sagen, ob eine Sicherheitslücke aufgetreten ist, aber Fälle wie diese geben uns die Möglichkeit, diese Dinge zu verbessern. Jahr für Jahr entweichen, dank modernster Technik, immer weniger Straftäter. Man darf nicht vergessen, es handelt sich bei Herrn Ried um einen Patienten, der Hilfe benötigt. Anschuldigungen der Anstalt gegenüber sind kontraproduktiv. Je intensiver die Bürger mitarbeiten, desto schneller ist der Patient wieder in Gewahrsam.
Einwohner zeigten sich besorgt und machten ihrem Ärger bei einer spontanen Demo Luft. Der Sprecher der Bürgerinitiative ›pro Ruhrbach‹ Manuel Wachowski dazu:
Eine Anstalt mit geisteskranken Verbrechern hat mitten in der Stadt nichts zu suchen. Hat der unbescholtene Bürger nicht das Recht
…«
Michelle schaltete den Fernseher wieder aus. Sie biss die Zähne aufeinander, bis ihr Kiefer knackte. Sie wollte sich ihr Leben nicht wieder entreißen lassen. Nicht von ihm. Es gehörte ihr, niemandem sonst. Ihr erster Reflex war es, den Zettel ungelesen zu zerreißen. Wäre sie keine Mutter gewesen, hätte sie es getan, aber so …
Sie faltete ihn auseinander und las.
Liebste Michelle,
verzeih mir, dass ich mich erst jetzt, zu so später Stunde, bei dir melde. Wahrscheinlich erwartest du diese Nachricht schon sehnsüchtig, doch meine Zeit ist äußerst knapp bemessen. Da mir allerdings nichts ferner liegt, als dich weiterhin im Ungewissen zu lassen, möchte ich dich nun in Kenntnis setzen.
Zweifellos weißt du bereits, was heute alles geschehen ist, und ich versichere dir von Herzen, dass es noch nicht vorbei ist.
Es mag für dich im Moment alles verwirrend sein, jedoch wird sich bald der Nebel lichten.
Lillian ist hier, bei mir. Du weißt, wie nahe wir uns standen, daher brauchst du dir um sie keine unnötigen Sorgen zu machen. Zumindest nicht, wenn du mir gibst, was ich verlange.
Dem Wolf ist ein Lamm entkommen. Das kann ich so nicht stehen lassen. Vor allem nicht, weil das Lamm den Jäger auf den Plan gerufen hat. Jetzt, wo der Wolf wieder jagen kann, kann das Unrecht gesühnt werden.
Dir fällt die Aufgabe zu, das Lamm zu fangen und zu mir zu bringen. Wir zwei sind eng miteinander verbunden, daher weiß ich, dass du mich nicht enttäuschen wirst. Falls du aber nicht ganz überzeugt bist, möchte ich dir eine winzige Motivation mit an die Hand geben. Eine Art Laterne, damit du in der Dunkelheit auch den rechten Pfad erkennst:
Bringst du mir mein Geschenk nicht, werde ich Lillian in ein wunderschönes Kunstwerk verwandeln, über das noch in Jahrhunderten gestaunt wird.
Du kannst gerne die Polizei einschalten, aber dann wirst du nie erfahren, ob du eine Chance hattest, unsere süße kleine Tochter zu retten. Halte dich an meine Anweisungen.
Es küsst dich,
dein Tom
PS: Nur was tot ist, kann lebendig werden.
Schmetterlinge flatterten durch Michelles Bauch. Erst nach und nach drangen die Worte in ihr Bewusstsein.
Das Lamm, das entkommen war
. Sie wusste genau, wen er meinte. Diese Chinesin. Sie hatte sich befreien können und Maik auf seine Fährte gebracht. Durch sie war alles aufgeflogen. Erst jetzt wurde Michelle klar, dass sie sich nie bei ihr bedankt hatte.
Doch wo war sie? Michelle musste mehr herausfinden. Es wurde Zeit, in Toms Vergangenheit herumzuwühlen. Das einzige Problem daran war: Toms Vergangenheit war auch die ihre.
Und das Polaroid?
»Das bringe ich jetzt gleich der Polizei«, sagte Michelle zu sich selbst und hatte dabei das grauenhafte Gefühl, einen fatalen Fehler zu begehen.
[home]
Kapitel 11
A ls Lillian am Morgen aufwachte, hatte sie das Gefühl, ein Splitter säße in ihrem Kopf. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, doch sie konnte nicht sagen, was es war. Es fühlte sich an, als würde sie das erste Mal in ihrem Leben die Augen öffnen.
Sie war müde.
Unglaublich
müde. Ihre Sinne waren wie
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