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Papa

Papa

Titel: Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven I. Hüsken
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tun.
Sie
war die Mutter. Niemand sonst war so motiviert wie sie. So war die Natur, und in diesem Moment spürte Michelle die enorme Kraft, die von ihr ausging.
    Sie hockte inmitten von Toms restlichen Habseligkeiten. Es war, als hätte Michelle all die Sachen für genau diesen Moment aufgehoben. All die Erinnerungen, all die Schmerzen, ihre ganze Vergangenheit – ausgebreitet auf dem gemeinsamen Ehebett.
    Obwohl sich Michelle gewünscht hatte, dieses Bett zu entsorgen, in dem sie sich diesem Mann hingegeben hatte, war die Psychologin doch dagegen.
    Die Geschichte
, so meinte sie,
bewältigt man nicht, indem man sie auf den Sperrmüll wirft. Man stellt sich ihr. Man macht sie sich zu eigen. Man baut seine Gegenwart auf ihr auf.
    Also hatte Michelle die Matratzen ausgetauscht und das Gestell gestrichen. Es war noch immer das gleiche Bett, und doch war es ein neues. Es roch anders und es fühlte sich anders an. Insofern hatte die Psychologin recht. Das war der erste Schritt in ein unabhängiges Leben.
    Unabhängig? Sei ehrlich Michelle, wie unabhängig kann ein Leben sein, nachdem du ihm die besten Jahre deines Lebens geschenkt hast? Nachdem du mit ihm so viele tolle Erinnerungen geschaffen hast? Alles, was dir wichtig war, hast du mit ihm geteilt. Das aufzugeben, seinetwegen, ist nicht wirklich unabhängig, oder? Und dann ist da noch das andere. Das, was du immer versteckst. Dieses dunkle Geheimnis.
    Michelle schüttelte die Gedanken beiseite. Sie hatte sich arrangiert. Das war alles. Nichts, wovon man viel Aufhebens machen sollte.
    Nur jetzt, wo ihre Geschichte in Form von Bildern und Briefen so ausgebreitet und nackt vor ihr lag wie eine lüsterne Hure, verlockend, süß, mit den Versprechungen auf ein paar schöne Stunden und der Gewissheit, dass man sich hinterher schlechter fühlte als vorher, kamen die Zweifel. Was hatte sie alles aufgegeben? Und was hatte sie für dieses Opfer bekommen?
    Sie betrachtete die Fotos oberflächlich. Aufgenommen in Ägypten. Das war lange, bevor er anders wurde.
    Er wurde nicht anders. Offenbart hat er sich. Er war schon immer so, du hast es nur nie bemerkt.
    Sie waren viel gereist, hatten sich Ausgrabungsstätten angesehen, über die sie vorher intensiv gelesen hatten. Ihre Urlaube waren immer abenteuerlich gewesen.
    Tränen liefen Michelle über das Gesicht. Die Gewissheit, dass all das vorbei war, mehr noch, dass jeder
Gedanke
daran wie Gift war, das ihren Körper in wilden Krämpfen zerstören wollte, nahm ihr die Kraft.
    Tom hatte ihr alles genommen und nichts übriggelassen bis auf Lilly. Michelle ballte die Hände zu Fäusten. Lilly. Sie hatte er nun auch.
    Jede Faser ihres Körpers schrie, dass sie etwas tun sollte. Ja,
musste
!
    Sie würde ihre Tochter zurückholen. Egal, welche Hölle Michelle dafür durchqueren musste, es gab keine, die heiß genug war, um sie aufzuhalten.
    Der Einstieg in das
andere
Leben von Thomas Ried befand sich vor ihr auf dem Bett. Er hätte ihr diese Aufgabe nicht gegeben, wenn sie nicht lösbar gewesen wäre.
    Rätsel hatte er schon immer gemocht. Es war für ihn ein Ausgleich zu seinem Job. Als Vertreter erlebte man selten etwas Aufregendes. Das holte er in der Freizeit nach. Archäologie, Astronomie, Physik, all die Dinge, die Rätsel aufgaben, hatten ihn fasziniert. Sie beide. »Abenteuer inmitten des Lebens«, hatte er es genannt, und er hatte recht damit. Es war aufregend, ihre Freizeit danach auszurichten. Mysteriöse Orte zu besuchen, um anschließend zu Hause darüber zu reden. Stunden hatten sie hier im Bett gelegen und geredet, und meistens war er danach in sie eingedrungen.
    Der bloße Gedanke ließ sie würgen.
    Michelles Blick schweifte über die Utensilien, die sie auf dem Bett verteilt hatte. Bilder, Notizen, Briefe. Es gehörte ihm. All seine Geheimnisse, die wahrscheinlich welche bleiben sollten.
    Nicht einmal, nachdem er in die Anstalt eingewiesen war, hatte sie dieses Zeug angefasst. Allein der Gedanke daran verursachte eine tiefe Übelkeit, weshalb sie es einfach auf dem Dachboden verstaut hatte, um es bei einem künftigen Umzug zu vergessen.
    Sie seufzte, als ihr bewusst wurde, dass sie den nächsten, unumgänglichen Schritt hinauszögerte. Die Chinesin.
Sie
war jetzt wichtig. Wer war sie, und wo wohnte sie?
    Michelle fischte wahllos einen Brief aus dem Haufen, öffnete ihn und las.
    Er kam von einer alten Schulfreundin, die ihn bei einem Zwischenstopp auf einer Geschäftsreise wiedersehen wollte. Offenbar hatte sie sich

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